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596 Psycbiscbe Studien. XXVII. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1900.)
angesehenen Psychologen acceptirt wurde. Bernheim wendet
den Begriff des Somnambulismus in doppelter Weise an.
Einmal erfasst er darunter die Gesammtheit aller hypnotischen
Erscheinungen; dann aber bezeichnet er nach Liebaulfs
Vorgang lediglich die tieferen Grade der Hypnose, die mit
aktiver Halluzinationsfähigkeit ausgestattet sind, ebenfalls
so, indem er das von Liebault noch weiter angeführte Merkmal
der Amnesie verwirft (S. 67 „Neue Studien" 1892, Wien).
Beide Begriffsanwendungen scheinen uns der Korrektur
erheblich zu bedürfen. Warum uns die erstere, obwohl sie
den Begriff über das Gesammtgebiet des Hypnotismus ausdehnt
, noch ungenügend erscheint, werden wir weiterhin zu
berühren haben. Die zweite bedeutet eine übermässige
Einengung des Begriffes, welche aus diesem Grunde beanstandet
werden sollte, anerkennen wir auch bereitwillig die
grossen Verdienste, welche die Forscher von Nancy sich um
die psychologische Erklärung des Hypnotismus erworben
haben, indem sie die superfiziellen Phänomene desselben
gründlich studirten und auf ein rein psychologisches
Erklärungsmoment zurückzuführen verstanden, auf die
Suggestion. Solange wir seiner Zeit nur die bekannteren
Phänomene der Hypnose kennen gelernt hatten, aus denen
diese Erklärungsart geschöpft wurde, befriedigte sie auch uns
völlig. Erst als uns in eigenen, mühevollen Untersuchungen
Thatsachen bekannt wurden, welche sich nicht ohne Kück-
stand durch die Filter der reinen Suggestionstheorie treiben
liessen, fingen wir an, die Frage wieder als offene zu
betrachten. Als uns dann die gründlichen Experimente von
de Rochas bekannt wurden, bestärkten sie in uns die Anschauung
, dass die völlige Zurückführung dieses Thatsachen-
gebietes auf die so ansprechende und einen ersten jähen
Kausalitätsdrang so trefflich befriedigende Suggestionshypothese
nicht mehr als erschöpfend angesehen werden kann.
Damit erst rollte sich uns das Problem des Somnambulismus
in seiner imposanten Grösse auf: eine erste Frucht
der neuen Situation war die Einsicht in die Komplexität
dieser Frage. Weiterhin mussten wir erkennen, dass auf
das Problem des Somnambulismus nicht die Psychologie
allein Anspruch erheben darf; ein ebenfalls nicht unbeträchtlicher
Theil kommt davon der Physik zu. — Lassen Sie mich
diese Behauptung nur mit einem speziellen Hinweis erläutern,
indem ich an die von de Rochas so vortrefflich beobachtete
Exteriorisation des Tastsinnes erinnere, welche in
gewissen somnambulen Zuständen konstatirt wurde. Hier
haben wir zwar in erster Linie ein psychologisches Problem, in
zweiter jedoch eine wohl umschriebene Aufgabe der Physik,
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