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636 Psychische Stadien. XXVII. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1900.)
d. i. kausalitätslos entstanden; sie ist auch von der anderen,
unter anderen Bedingungen entstandenen verschieden, noch
mehr aber die von ihnen auf lllusionirung objektivischer
Repulsate, die selbst wieder unter einander weit verschieden
sind, reaktivirten Vorstellungen oder Willensideen.
Der subjektivische Wille betrifft den emotionellen
Theil aller ßewusstwerdungen, den organischen, biochemischen
, körperlichen, eventuell seelischen oder
geistigen Hunger» Ein Gesunder wird aber andere
Willensideen haben als ein Kranker, ein Vollblütiger andere
als ein Anämischer, ein Nervenstarker andere als ein Neu-
rastheniker u. s. f. Absolut, d. i. kausalitätslos frei ist der
subjektivische Theil des Willens daher ebensowenig als irgend
ein objektivisches äusseres Geschehen („Nihil fit sine causa'*).
Wenn ein subjektivischer Wille im Gehirn aktiv wird, sich
meidet, so kann er nur das wollen, was er im Gehirn als
vor stellbar antrifft. Wer von Meerspinnen oder Ananas
nichts weiss, davon auch sprachlich nie etwas erfahren hat,
kann derlei Sachen gar nicht wollen. Wie aber das Wasser
sich von allen sich ihm darbietenden Wegen gerade den
zunächst in die Tiefe führenden „auswählt", so wählt der
Wille unter den vorstellbaren Objekten das am meisten
Befriedigende, das „Liebste44 aus. Dabei ist der Wille des
Intelligenteren mehr frei, wie in der Wahl der Objekte,
so auch in der Wahl der Mittel, als der des Unwissenden.
Diese relative intellektuelle Freiheit des Willens
muss durch Einwirkung auf die'Einsieht erst ausgebildet
resp. erworben werden.
Aber auch damit ist noch nicht immer alles gesagt.
Der einmal entstandene, schon bestehende bewusste Wille
ist nur dann verhältnissmässig frei, wenn ihm innerhalb des
eigenen Hirns kein anderer Wille entgegensteht und er so
erstarkt, dass er zur herrschenden, Motive bildenden und
den Körper zur Ausführung von Bewegungen veranlassenden
Willensidee wird. Er gleicht somit sehr dem wilden Thiere
im Urwald, das die vollkommenste „Freiheit" geniesst, so
lange es nicht von einem stärkeren aufgefressen oder durch
einen überlegenen Willen gebändigt wird. Dann kommt aber
die Kultur und Civilisation; der Mensch zieht dem Bären
einen Ring durch die Nase, das wilde Pferd wird gesattelt
und gezäumt, in Pflug und Wagen eingespannt, und damit
ist die jugendliche „Freiheit" zu Ende. 8o hat auch dem
individuellen Willen des Menschen, der von Natur aus im
Selbstbewusstsein frei entstanden ist und so empfunden wird,
der Glaube, der Gehorsam, die Erziehung, die Umgebung,
kurz die Sitte so vielerlei fremde Willensideen, Willen
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