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Maier: Naturwissenschaftliche Seelenforschung. 637
der gesellschaftlichen, staatlichen Ordnung, der Religion und
Moral, eingeimpft, dass der ursprüngliche eigene Wille in
Wirklichkeit nicht mehr „frei", sondern mit fremden Willensarten
belastet ist. Je unabhängiger daher die Lebensstellung
des Einzelnen ist, desto freier ist sein Wille. Wie beschaffen
aber dieser eigene Wille, ob er ein guter oder böser,
ein moralischer oder unmoralischer ist, das ist wieder eine
andere Frage, die mit der von der ,,Willensfreiheittt zunächst
nichts zu thun hat. (Nach Kant und Schopenhauer, bezw. der
indisch - theosophischen Karmalehre hängt dies von dem im
Vorleben gewonnenen „intelligibeln Charakter" des Menschen
ab. — Red.) Das sogenannte „Freiheitsgefühl" im
Selbstbewusstsein endlich, das in dem Satz Ausdruck findet:
„Ich kann thun, was mir beliebta, betrifft gar nicht die
Entstehung der Willensideen, sondern nur die Funktionirung
des motorischen Innervationsapparats, ja eigentlich nur die
subjektivischen Impulsirungen. Diese vom Willen ausgehende
motorische Innervation mit dem Willen selbst zu verwechseln
ist ein ebenso alter als grober Fehler. Diese rein „physiologische
Freiheit" kann nimmermehr als „Willensfreiheit"
bezeichnet werden; denn dieselbe Freiheit besitzt jede gut
gehende Lokomotive oder andere Maschine. Eine von der
allgemeinen Naturkausalität verschiedene, separate „geistige
Kausalität" giebt es überhaupt nicht. Von einer „psychischen
Kausalität" zu sprechen, wäre ebenso unsinnig, wie wenn
man von einer „ Wärmekausalitäta, von einer „Licht- oder
Elektrizitätskausalität0 reden wollte. —
Die erwähnte Verwechslung von physiologischer Funktionsmöglichkeit
mit Willensfreiheit hat heute noch in voller
Geltung stehende Konsequenzen hinsichtlich der rechtlichen
Handlungsfähigkeit, bezw. der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
, der Zurechnungsfähigkeit gezeitigt, welche vielfach
bestritten wird, seitdem der Determinismus in Ergebnissen
der naturwissenschaftlichen Forschung und der Moralstatistik
eine stets wachsende Stütze gefunden hat. Auch in
dieser wie bis dato in allen psychologischen Fragen herrscht,
je aktueller sie werden, um so fühlbarer Dunkel und Un-
gewissheit, so dass auf dem 3. internationalen Kongress für
Psychologie in München (1896) ein hervorragender Strafrechtslehrer
(Liszt) nicht umhin konnte, sein Bedauern darüber
auszusprechen, dass nicht die Psychologie des normalen
Menschen, sondern die Psychiatrie die Juristen über den
Begriff der Zurechnungsfähigkeit oder vielmehr über den
abnormalen Fall ihres Mangels belehre. Die Schulpsychologie
definirt die Zurechnungsfähigkeit meist als das Vermögen
des Geistes, die Folgen seiner Handlungen im vor-
Psychisohe Stadien. Oktober IjOO. 41
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