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man eine geistige Bewegung nicht in Widerspruch bringen
soll. Denn man kann ganz gut zugleich Spiritist und Sozialist
sein, wie man ja auch zugleich guter Christ und Sozialist
zu sein vermag. Beweis dessen die in Oesterreich so gewaltig
angeschwollene, alle Hindernisse überwindende, sogenannte
christlich-soziale Bewegung. Die Wohlhabenden, die Besitzenden
und Geniessenden haben gar keine ernste Veranlassung
, sich für irgend eine metaphysische Weltanschauung
zu begeistern; die wahre Philosophie kommt erst bei
hungerndem Magen und leeren Taschen. Die Frage: wozu
lebe ich denn eigentlich?, stellt sich immer zuerst bei denen
ein, die das Leben nur von seinen Schattenseiten kennen.
Wenn man an der reich besetzten Tafel sitzt, fragt man
nicht darnach, wozu man seinen Magen hat, — man füllt
ihn einfach. Das haben auch die Verfechter des Materialismus
vortrefflich und frühzeitig erkannt. Sie klopften den „armen
Mann" auf die Schulter und sagten: „Nun, mein Lieber, wo
gehst Du hin? In die Arbeit, nicht wahr? Da wirst Du
Dich schinden und plagen, Tag um Tag, Jahr um Jahr,
während die Anderen, die Reichen spazieren gehen. Da
wirst Du Dein Leben hinter den Kerkermauern der Werkstätten
vertrauern, während die, für die Du Dich abmühst,
das ihre in vollen Zügen gemessen. Wie oft warst Du wohl
schon verzweifelt bis zum Lebensüberdruss, weil es Dir nicht
gelang, ein paar lumpige Mark für Deine nothwendigsten
Bedürfnisse aufzutreiben, indes in derselben Minute vielleicht
Dein „Brotgeber" den hundertfachen Betrag für irgend eine
Kinderei, für irgend einen zweifelhaften Genuss gedankenlos
von sich warf? Ist Dir nicht vielleicht ein Kind gestorben
, weil die Mutter es nicht pflegen konnte, denn
auch sie musste in die Arbeit gehen? Tröste Dich, sieh
dort drüben dem Kind wird nichts geschehen, es sitzt in
einem schönen Wagen mit Gummirädern, und eine Amme
zur rechten und eine Gouvernante zur Linken geben gehörig
Acht!"
Da hat der Arbeiter die Faust geballt und gerufen:
„Was soll ich thun?" Der Materialist aber lächelte, und
sprach gelassen das grosse Zauberwort: Organisiren j Und
er lehrte den Arbeiter alle Autorität im Himmel und auf
Erden zu missachten, abzuleugnen, Er lehrte ihn, das Leben
als einen geschlossenen Kreis zu betrachten, der keine
Verlängerungslinie kennt. Er lehrte ihn, innerhalb dieses
engen Cirkels das grösstmögliche materielle Wohlsein anzustreben
, denn:
Was dieses Leben Dir nicht bringt,
Gciit Dir für immerdar verloren l
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