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760 Psychische Studien. XXVII. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1900.)
zu stark für die individuelle Reaktionskraft erweisen kann
und der Mensch, ohne ein Dazwischenkommen äusserer
Hilfe physisch und psychisch verkommen muss. Ich erlaube
mir hier eine Stelle aus meinem Buche „Gesundheit und
Glück" *) (S. 99) einzurücken, welche sich auf ein derartiges
Beispiel bezieht: „Bei dieser Gelegenheit möge auch eine
Frage erwähnt werden, die bereits von den Kirchenvätern
aufgeworfen und auf verschiedene Weise beantwortet wurde.
Augustinus meinte, dass eine keusche Frau, welche das
Unglück hatte, zur Nothzucht gezwungen worden zu sein,
absolut schuldlos bleibe, auch wenn sie dabei „einige Wollust
empfunden habe sollte/4**) Und doch fällt eben der letztgenannte
Umstand schwer in die Wage. Wie sehr sich
immer ihr Wille sträubte, sie betheiligte sich unwillkürlich
an dem Vergehen ihres Schänders, indem sie wollüstige
Empfindungen in sich aufnahm. Denn gesetzt, die Folgen
eines einzigen Ueberfalls vermögen spurlos zu verschwinden,
wer verbürgt, dass ihr bei öfterer Wiederholung
kein Schaden zugefügt werden könne? Gesetzt, der Schänder
hält sie in Gefangenschaft und zwingt sie öfters, ihm zu
Gebote zu stehen, so kann sich dabei eine solche Reizung
ihrer Geschlechtsorgane einstellen, dass ihre anfängliche
Keuschheit und Willenskraft wenigstens Einiges einbüssen
wird und ihr Sträuben schliesslich abnimmt. Und in diesem
Sinne begriffen es auch offenbar die alten Christen. Denn
eine der Scheusslichkeiten der Christen Verfolgung bestand
darin, dass keusche Frauen verurtheilt wurden, in ein Bordell
einzutreten, was jedoch gewöhnlich durch deren Selbstmord
vereitelt wurde, da sie klar einsahen, es bleibe ihnen nur
die Wahl zwischen leiblichem und moralischem Tod."
Denn wenn es auch als grosse Uebertreibung anzusehen
ist, wenn gewisse kriminalistische Schriftsteller jede Pro-
stituirte ohne Weiteres in eine Reihe mit Verbrechern
stellen, so ist es anderseits zweifellos, dass eine lange
Praxis der Prostitution der Sittlichkeit die grössten Gefahren
bringt, — Was in jenen alten Zeiten vorkam, kommt
in vielfacher Gestalt auch heute noch vor. Der Mehrzahl
der Menschen kommen die Unvollständigkeiten und Sünden
der gesellschaftlichen Einrichtungen immerhin in so verdünnter
Gestalt entgegen, dass sie im Stande sind, ihnen
die Stirn zu bieten, ja im Kampfe mit ihnen ihre individuelle
Seelenkraft zu stählen (die „linke Hand"!). Auf Einzelne
Vergleiche die Besprechung dieses geisterfrischenden und Jebens-
nuthstärkenden Werkes im Oktoberheft S 651. — Red.
**) De Civitate Dei 1. I, CXVI und CXVIII.
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