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Karze Notizen
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erfolgt dann ein mächtiger empiristisch-materialistischer
Rückschlag, der seinen extremsten Ausdruck in dem Versuch,
alles Weltgeschehen in mechanische Prozesse aufzulösen,
findet, — bis schliesslich die Einsicht, dass die materialistischen
Dogmen uns dem Wesen der Dinge nicht näher bringen als
die metaphysischen, zur Resignation bezüglich der „letzten
Fragen", zum Agnosticismus führte. In einer solchen allem
Dogma, allem System gegenüber sich misstrauisch verhaltenden
Zeit konnte der antimetaphysische Skeptiker, der aphoristische
Diesseitsphilosoph Nietzsche, nachdem er, lange ignorirt, einmal
„entdeckt" worden war, seine Triumphe feiern. Anknüpfend
an den äusseren Lebensgang Nietzsche^ gab der Vortragende
eine Schilderung seiner geistigen Entwickelung. Für die
Kenntniss des jungen Nietzsche besitzen wir eine geradezu
unschätzbare Dokumentensammlung in der Biographie, welche
wir Frau Dr. Förster, der Schwester des Philosophen, verdanken
, Sie führt vor allem Leute wie Türck, Nordau u« a» m«
ad absurdum, welche leichtfertiger Weise aus oberflächlicher,
missverstehender Auffassung der Nietzsche'sehen Moralkritik
heraus Nietzsche als einen von Jugend auf moralisch schwachsinnigen
, mit perversen „sadistischen" Trieben behafteten
Menschen hingestellt haben. Statt dieser Karrikatur zeigt
uns die Biographie einen geradezu peinlich korrekten Knaben,
der allen Bubenstreichen abhold mit den wenigen auserwählten
Freunden geistige Interessen, Musik pflegt, überdies auch
ein warmes religiöses Gefühl zeigt; — sollte er ja doch, wie
viele seiner Vorfahren, Geistlicher werden. Aber, als er
Schulpforta, wo er seine Erziehung genossen, verlässt und
in Bonn seine Studien beginnt, da haben die geistigen Ent-
wickelungskämpfe ihn bereits über allen Dogmenglauben
hinausgeführt und die Theologie steht nur, um den Wünschen
der Angehörigen zu entsprechen, auf dem Studienplane: in
Wirklichkeit widmet sich der junge Student mit immer
wachsendem Interesse philologischen Studien; und als er gar
in Leipzig mit einer lateinischen Arbeit, — welche übrigens
charakteristischer Weise von dem Aristokraten und Pöbelhasser
Theognis handelt, — Ritsch /'s Bewunderung erweckt,
da erwacht der brennende Wunsch in ihm, es in dieser
Wissenschaft zur Meisterschaft zu bringen. Einige weitere
Arbeiten haben den seltenen Erfolg, dass der 24jährige
Student, der noch vor Examen und Promotion steht, zu
einer Professur nach Basel berufen wird! In diese Baseler
Zeit fallen die Erstlinge der philosophischen Produktion.
— Der Vortragende erwähnt die übliche Eintheilung des
philosophischen Schaffens Nietzsche9» in drei Perioden, die
aber nur zu halten war, solange nur die von Nietzsche selbst
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