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Litteraturberioht.
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sofort jeden Vorwurf zum Schweigen zu bringen. Mit einer Bewegung
von unnachahmlicher Vornehmheit öffnete sie eine Spange und blickte mit
wogender Brust m ihrer unverhüllten Schönheit auf die staunenden Künstler
herab. Auch für ein Plakat verwendete man Lina. Die drei Bilder sind
im Ausdruck vortrefflich. Nur sind sie für ein Plakat zu wenig monumental.
Mit der Zeit änderte R. seine Methode (S. 98). Er erkannte, dass die
langen Vorbereitungen der Suggestion nicht nothwendig seien, wenn man
Worte verwendete, m denen die Leidenschaften gewissermassen krystallisirt
sind. Das war in den Dichtungen der Klassiker der Fall. Er erweckte
daher in Lina nur die Vorstellung einer bestimmten Persönlichkeit und es
genügten dann wenige Verse, um in ihr die ganze Skala der Empfindungen
zu entfesseln. Ganze Szenen wurden auf diese Weise von ihr dargestellt.
Von besonderer Schönheit sind die Bilder aus Racine's „Esther". Der franzosische
Tragöde Andre Mi pari äusserte bei ihrem Anblick schrankenlose Be-
wuncerung. „Wenn man methodisch fortschreitet", schrieb er an R. „und
Sorge trägt, das« Lina nur von echten Künstlern beeinflusst wird, so wird
man für unsere Schauspieler unschätzbare Vorbilder erhalten. Lina könnte
ihnen zeigen, wie hoch die dramatische Kunst steigen kann, wenn sie sich
allein auf das Wahre und Schöne stützt."
Dem Psychologen bieten die Versuche /?.'s bis zu diesem Punkt nicht
unbedingt Neües. Jeder bedeutendere Hypnotiseur, und die Charlatane
erst recht, haben mit ihren Medien schon derartige mimische Szenen ausgeführt
. Neu ist nur ihre feine künstlerische Verwerthung. Erst in den
nun folgenden Versuchen, die den Einfluss der Musik auf Lina prüfen,
betritt IL neue Bahnen. Die wenigen älteren Versuche ^Kapitel 3) mit
Sensitiven, die R. gewissenhaft anführt, kommen kaum in Betracht.
Naturgemäss nehmen daher die musikalischen Suggestionen auch
den grössten Theii des Werkes in Anspruch.
R. schickt zunächst die grundlegenden Gesetze voran. Umgekehrt wie
die Verbalsuggestion, die in der leichten Hypnose am stärksten wirkt,
äussert die musikalische Suggestion ihre Wirkung um so intensiver, je
tiefer der Somnambulismus ist. Mit der Art der Musik ändern sich die
Gesten. Drückt sie Leidenschaften aus, ist sie „passiunee", so sind die
Gesten ungemein erregt; ist sie nur „decorative", d. h. bringt sie nur angenehme
Gehörsempfindungen hervor, so sind die Gesten monoton und
schwach. Diesen Zustand bezeichnet als Ekstase,
R. wendet sich dann zu den Einzelheiten. In Professor Lionel Dauriac
und Elte Poiree fand er zwei ausgezeichnete Musiker, die ihn künstlerisch
unterstützten. Zu bemerken ist, dass Lina etwas singt und ein wenig Guitarre
spielt, im übrigen aber unmusikalisch ist. Man prüfte zuerst den Einfluss
einzelner Tone. Lina wird dabei erregt, ein Zittern durchläuft den
ganzen Körper. Die Mittellage ist ihr angenehm. Zu hohe Tone rufen
den Ausdruck des Leidens wach, den man etwa beim Hören eines durchdringenden
Schreies zeigt; zu tiefe Töne erregen Angst und Schrecken.
Dissonanzen wirken stets Schmerz erregend. Was wurde Lina zu Sirauss*
„Don Quixole" gesagt haben! Die Intensität des Tones entspricht genau
der Intensität der Reaktion. —
Nach diesen Beobachtungen schritt man dazu, den Einfluss von
aufeinander folgenden Tönen (Tonleitern) festzustellen. DasErgebniss
war folgendes: Jeder Ton wirkt wie der isolirte Ton. Mit dem Steigen der
Tonleiter verlässt die Erregung die Beine und theilt sich dem Rumpf, den
Händen, Armen, der Brust, den Schultern and dem Kopf nach einander
mit. Beim Fallen tritt die umgekehrte Wirkung ein. — Es lag nahe,
nunmehr zu rhythmischen und melodischen Tonlolgen überzugehen.
In die erste Gruppe gehören Märsche und Tänze. R. machte die überraschende
Entdeckung, dass die unteren Körpertheile den Rhythmus, die oberen die
Melodie ausdrückten. Beide Wirkungen sind streng von einander geschieden.
Man kann den Rhythmus durch einfache Schläge markiren und Linahs
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