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98 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1901.)
Zeitenperioden der Kulturentwieklung. Die „Erbsünde"
ist daher nichts Anderes, als die angeborene Unkennt-
nissderTendenzdesWeltprozesses. Je weiter
jedoch die Menschheit in der Erwerbung ihrer Kenntnisse
vorwärts schritt, desto mehr trat auch an die Stelle der
Religion die Philosophie, deren Vertreter bald mit
Verwunderung sahen, dass, was die Einen für sittlich und
gut hielten, den Andern vielfach ein Gräuel war und umgekehrt
. So erhob sich die Frage, welches wirkliche Geschehen
denn das Sittliche, bezw. ob Letzteres vielleicht
nur ein Produkt der Einbildungskraft sei. Diese und ähnliche
Fragen ziehen sich durch alle philosophischen Systeme,
und so verschieden dieselben waren, so verschieden lauteten
die Antworten, während doch die Wahrheit nur eine sein
kann. Am meisten Beachtung fand in jüngster Zeit die
fccheidung der Ethik in eine theoretische und eine normative
oder praktische, wobei die erstere der Psychologie zugetheilt
wird, sodass die wissenschaftliche Ethik gleichbedeutend
mit der Psychologie des sittlichen Bewusst-
s e i n s wäre. Allein hohnlachend fragen die Stirner, Nietzsche
und andere Vertreter des ethischen Skeptizismus: „Welcher
Wirklichkeit entspricht denn dieses angebliche Bewusst-
sein von gut und böse? Wo ist denn Euer höchstes Gut, nach
welchem Ihr als einem unverrückbaren, allgemeingiltigen
Maassstabe die Handlungen der Menschen beurtheilen könnt ?
An welchen objektiven Merkmalen erkennt Ihr denn eine
Handlung als gut? Genau dieselben Bandlungen, welche
einige für gut halten, weil sie ihren eigenen Zwecken passen,
erklären andere für schlecht oder mindestens thöricht, indem
sie die entgegengesetzten schätzenswerth finden. Euer höchstes
Gut existirt also nur in Eurer Einbildung; es ist, wie schon
Kant es nennt, eine „Idee der reinen Vernunft" und
das Sittliche ist die blosse „apriorische Form" der
Thätigkeit der Vernunft, abgesehen von jedem empirischen
Inhalte, ein bloss regulatives, nicht konstitutives Prinzip,
oder wie Lotze meint, die Idee des Guten, Schönen, Heiligen
ist ein regulatives Prinzip für das Ganze der Weltansicht
, ein Glaube, eine metaphysische Voraussetzung
, aber keineswegs etwas wirklich Gegebenes."
Andere wollen als sittlich nur jene empirisch gegebenen
Handlungen gelten lassen, welche der jeweiligen Sitte, also
den von den Vätern überkommenen, oft recht hässlichen
und unvernünftigen Gewohnheiten gemäss sind, während
die Eudaimonisten das Sittliche auf das Angenehme, das
Lustbringende, wie die Utilitaristen auf das Nützliche beschränken
.
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