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126 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1901.)
ürehristenthums herabsinkt, weil die Geistlichkeit sich — vermöge
einer unbegreiflichen Verblendung und Inkonsequenz der orthodoxen
Christen aller Konfessionen — hartnäckig weigert, neben den von ihr
gelehrten exceptionellen biblischen Wundern die weit besser kon-
statirten übersinnlichen Phänomene unserer Tage anzunehmen. Die
„Pfaffen", welche den Sitz des Uebels unserer Zeit nicht einmal
kennen, geschweige es zu heilen vermögen, haben blos leere Dogmen
und unnütze Ceremonien, deren tiefere, mystisch-spiritistische Bedeutung
sie selbst nicht mehr begreifen. Während sie so alle
vernünftigen Leute aus den Kirchen vollends hinaus predigen, hat
die Vorsehung durch den »Spiritismus, in welchem jene in ihrer
traditionellen Dämonophobie nur Teufelswrerk erblicken, bereits eine
neue Brücke zwischen dem Diesseits und Jenseits gebaut, um den
Menschen aus einem beschränkten Erdensohn zu einem Weltallsbürger
zu erheben. —
Verf., welcher (nach S. 301) selbst Oftenbarungsspiritist zu sein
scheint, rühmt das grosse Verdienst, das sich, hauptsächlich für die
romanischen Länder, als Vorarbeiter Allan Kardec damit erworben habe,
dass ei die an verschiedenen Orten erhaltenen „Geisteroffenbarungen"
mit grösster Gewissenhaftigkeit gesammelt, geprüft, in systematische
Ordnung gebracht und auf Grund des Uebereinstimmenden in ihnen
unentwegt und mit philosophischer Klarheit zu einer trostreichen,
zum Herzen sprechenden, das Gemüth befriedigenden neuen Glaubenslehre
von innerer Haltbarkeit und grösster Tragweite ausgearbeitet
habe. Gerade dafür, dass er vor allem das Herz der Lesex, das oft
richtiger fühle, als der Kopf auszugrübeln vermag, für das von ihm
aufgeführte grossartige moralische Lehrgebäude zu gewinnen verstand,
habe er für den geistigen Fortschritt der Menschheit weit mehr geleistet
, als wenn er die spirituellen Erscheinungen, nach dem Muster
der sich in pedantisch trockenen, spitzfindigen, sich selbst fortwährend
widersprechenden Abhandlungen gelehrter „Jünger der Wissenschaft",
zuerst einer genauen, den wissenschaftlichen Schneckengang gehenden
, kritischen Prüfung aller Einzelheiten unterworfen hätte. Verf.
scheint dabei nicht zu ahnen, dass er sich mit solchen, bis zum
Ueberdruss wiederholten Ausfällen gegen die Vertreter der exakten
Methode psychologischer Forschung in grellen Widerspruch mit seiner
eigenen, Eingangs aufgestellten Forderung begiebt, dem Spiritismus
auf dem Wege des Experiments allmählich eine wissenschaftliche
Basis aufzubauen. —
Das ganze vorliegende Werk besteht aus einer sehr fleissigen,
theilweise auch geschickten Auswahl und Zusammenstellung der
jedem Kenner der älteren okkultistischen Litteratur sattsam bekannten
Zeugnisse, bezw. der fesselndsten Erzählungen und Berichte aus den
grossen Originalwerken und den verbreitetsten Schriften eines Pertij,
Just, kerner, Davis, Edmonds, Aksakow, du Prel, Bans Arnold u. s. w.,
sowie aus den früheren Jahrgängen der „Psych. Stud." und anderer
Zeitschriften spiritualistischer Kichtung. Einen sehr breiten Eaum
nehmen die Auseinandersetzungen des Verf. mit dem ('bristenthum, in
dessen Stifter er den „grössten Spiritisten und höchsten Spiritualisten
aller Zeiten", wie in seinen Jüngern lauter von ihm absichtlich zu
diesem Zweck ausgewählte Medien (?) erblickt, sowie mit der von
ihm verherrlichten theosophischen (bezw. indischen) Lehre einer
Palingenesie (= Keinkarnation, im Gegensatz zur Metem-
psychose = Seelenwanderung) in Anspruch; leider verbieten uns aber
itaumrücksichten, auf die Einzelheiten, bezw. auf die schwachen
Punkte seiner Beweisführung näher einzugehen. Den zweifellosen Vorzügen
seines Buchs, welche hauptsächlich in der herzerfrischenden,
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