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C. W. Sellin: Scheinwissenschaft und Thatsachen
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Schein Wissenschaft und Thatsachen.*)
Von Prof. a. D. C. W. Sellin.
„Was, sie gestern gelernt, das wollen sie
heute schon lehren.
Ach, was haben die Herrn doch für ein
kurzes Gedärm." Goethe.
„Ist ein einziges mediumistisches Phänomen
bei Frau Rothe einwandfrei festgestellt, so
wiegl dieses eine Sandkorn schwerer, als das
Meer unserer bisherigen Erfahrungen. Eine
positive Thatsache wird durch tausend negative
nicht aus der Welt geschafft/'
Dr. jur. I£. Bohn (I, p. 15).
Meine bisherigen, auf das Drängen der Redaktion leider
stets im letzten Augenblick niedergeschriebenen Mittheilungen
über den Fall Rothe bedürfen einiger Ergänzungen, welche
ich in den folgenden Zeilen nachzuliefern gedenke. Es
handelt sich ausserdem um Zurückweisung einer in Deutschland
bisher unerhörten Scheinwissensehaftlichkeit, welche
die Feder des Herrn Dr. jur. E. Bohn in den zwei bekannten
Pamphleten über den Rothe-Fall geführt hat. Um die Anzeige
des ersten derselben in den „Psych. Stud." hatte mich
Bohn wiederholt dringend ersucht, und im Dezember-Heft v. J.
bin ich seinem Wunsche, wenn auch mit einigem Widerstreben
, nachgekommen, weil ich von Dr. B. persönlich
den Eindruck bekommen hatte, dass es ihm mit der AVissen-
schaft Ernst sei. Die Tendenz des Schriftchens, gegen
ungenaue Berichterstattung wie gegen eine hier und da
verbreitete Neigung zum Geistersport gerichtet, war mir
sympathisch und „in diesem Sinne" (p. 776) habe ich die
*) Nachdem unser Bericht über den bisherigen Gang des „Falls Rothe",
welchen der Leser in Abth. III findet, bereits fertig gedruckt war, erhielten
wir im letzten Augenblick diese, nach des Herrn Verfassers entschiedener
Absage von ihm nicht mehr erwartete ausführliche und interessante Rechtfertigungsschrift
. So schwei es unter solchen Umständen dem Redakteur fallt,
dem Zickzackkurs des geehrten Herrn Einsenders noch weiter zu folgen, glauben
wir seinen Artikel unserem Leserkreis schon deshalb nicht vorenthalten zu
dürfen, weil wir selbst ihn um Uebernahme des Schiedsrichteramts gebeten
haben, und damit nicht der Schein entsteht, als ob wir unter Aufgabe unserer
bisherigen strengen Neutralität dem angegriffenen Medium und seinen Beschützern
das Recht der Verteidigung irgendwie beschränken wollten. Da
nun einmal eine möglichst gründliche Erörterung aller dafür und dagegen
sprechenden Gründe im höchsten Interesse nicht nur aller betheiligten Personen
, sondern zugleich der spiritistischen, bezw. psychologischen Forschung
liegt, so steht selbstredend Herrn Dr. Bohn im nächsten Heft derselbe Raum
zum Zweck einer sachlichen Entgegnung zur Verfügung. Dass Herr Professor
Sellin die Hand uns hiermit wieder zur Versöhnung bietet, begrüssen wir
mit aufrichtiger Freude und sprechen ihm unseren Dank für seine, grosse
Opfer an Zeit und Geld erfordernde Mühe aus. — Red.
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