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Seiling: Zur Selbstmordfrage.
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Lebensalter nur einige dreissig Jahre! Ist es da nicht auch
vom diesseitigen Standpunkt aus absurd, das Lebensende
eines Menschen, der nach etwa siebzigjährigem redlichen
Kampfe die in Folge irgend welcher Umstände allzu schwer
gewordene Lebensbürde plötzlich abwirft, unvernünftig oder
gar verbrecherisch zu nennen, am „natürlichen" Tode eines
jungen Wüstlings aber nichts auszusetzen zu haben? Ich
für mein Theil fände es ferner durchaus vernünftig, wenn
man das Recht der Lebensverneinung wenigstens dem
hoffnungslosen Kranken gegenüber anerkennen und ihm bei
der Herbeiführung des sehnlichst erwünschten Endes behülf-
lich sein wollte. (Ganz einverstanden! — Red.) „Den Thieren
erweist man," sagt der edle Heilenbach sehr schön, „die
Wohlthat einer schnellen Tötung um so sicherer, je lieber
man sie hat, wenn ihr Zustand ein hoffnungs- und freudeloser
geworden ist; dem Menschen aber nicht! ... Es giebt
kein vernünftiges Motiv, die Bitte eines Lebensmüden zu
verweigern." Im Alterthum wurde, nebenbei bemerkt, in
Massilia (Marseille) und auf der Insel Keos der Schierlingstrank
sogar öffentlich Demjenigen überreicht, der triftige
Gründe, das Leben zu verlassen, anführen konnte. Auf der
Insel Keos war es ausserdem Sitte, dass die Greise (wie
dies auch bei nordischen Stämmen der Fall war) sich freiwillig
den Tod gaben. Nietzsche'* Lehre vom „vernünftigen
Tode,a deren allgemeine Befolgung er sich in einer fernen
Zukunft denkt, ist also in der Vergangenheit da und dort
schon praktizirt worden.
Zu den Selbstmördern im weiteren Sinne gehören auch
die Duellanten, die Berufssoldaten und solche Angehörige
bürgerlicher Berufe, welche ihre Berufspflicht höher einschätzen
als ihr Leben, wie z. B. Kapitäne, welche ihr
Schiff in der Gefahr prinzipiell nicht verlassen, Aerzte und
Krankenpfleger bei gefährlichen Epidemien, Feuerwehrleute
und andere mehr. Endlich können sogar Sokrates und Christus
insofern zu den Selbstmördern gerechnet werden, als sie die
Verurtheilung durch ihr Verhalten herbeigeführt und die
Gelegenheit, dem Tode zu entkommen, vorsätzlich nicht benützt
haben. Da Christus zudem im Interesse seiner Lehre
von der Nothwendigkeit seines Todes überzeugt war, ist der
von ihm begangene Quasi-Selbstmord in eminentem Sinne
als vernünftig zu bezeichnen.*) —
*) Von willkürlichem Selbstmord kann hier — wohl auch nach Ansicht
des Herrn Verf. — keine Rede sein. Das für den wahren
Christen vorbildliche Verhalten Jesu iL seinem Gottesläste-
rungsprozess entspricht lediglich dem idealen Kernpunkt seiner Liebeslehre
, wonach auch ein wirkliches oder vermeintliches Recht — nach dem
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