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164 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 3. Heft. (März 1901.)
Die Frage, was Tom Selbstmord in sittlicher Beziehung
zu halten sei, fällt zum guten Theil mit der Frage der
Vernünftigkeit zusammen. Ganz und gar gilt dies namentlich
vom Opfertode eines Christus, dessen höchste Sittlichkeit
über jeden Zweifel erhaben ist. Im gewöhnlichen Leben ist
das sittliche Moment besonders dann in die Augen springend,
wenn der Selbstmörder Pflichten gegen Nebenmenschen hat.
Diese Pflichten werden nun freilich sehr verschieden gewerthet.
Während Schopenhauer meint, es sei eine überspannte
Forderung, dass der, welcher für sich selbst nicht mehr
leben mag, nur noch als blosse Maschine zum Nutzen
Anderer fortleben solle, meint Tolstoi, dass jeder Mensch
bis zum Eintritt eines natürlichen Todes im Leben ausharren
müsse, um durch die Vervollkommnung seiner Persönlichkeit
und die Gemeinnützigkeit seiner Handlungen das Gresammt-
werk des allgemeinen Lebens zu fördern. Mir scheint von
diesen beiden Anschauungen die Tolstoi'&che viel extremer
zu sein als die Schopenhauer'sehe; denn leider giebt es nur
allzu viele Menschen, die der Allgemeinheit durch ihren Tod
entschieden mehr nützen würden, als durch ihr Leben, sei es
dass sie ein Vermögen hinterlassen, oder dem Arbeiter den
Konkurrenzkampf erleichtern, oder auch ihre Mitmenschen
von allerhand Quälereien tfefreien würden. (Auch diss kann
nicht bestritten werden! — Red.) Allerdings erscheint diese
Sache in einem anderen Lichte, wenn man davon überzeugt
ist, dass Leiden und Hemmnisse aller Art dem wahren
Wohle des Menschen zuträglich seien; dann hätte freilich
gar Mancher dafür dankbar zu sein, dass gewisse Leute sich
nicht aufhängen. Die Behauptung, dass jeder Selbstmörder
unsittlich handle, dürfte sich indessen schon deshalb nicht
aufrecht erhalten lassen, weil es vorkommen kann, dass das
Grundsatz: Lieber Unrecht leiden als Unrecht thun — unter keinen
Umständen mit Gewalt geltend gemacht werden darf. Eben hierin
liegt der namentlich von Tolsloj mit vollem Recht betonte heuchlerische Widerspruch
zwischen christlicher Lehre und Lebenspraxis, indem weltliche Machthaber
und Volker, die sich „Christen" nennen, immer noch an die brutale
Entscheidung mit dem Schwert appellieren und blutige Rache fordern. Wenn
Jesus einmal gesagt hat, er sei nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern
das Schwert, so sah er nur die unausbleibliche Folge der Weiterverbreitung
seiner Lehre unter Gewaltmenschen mit klarem Geiste voraus; was
er selbst von seinen Jüngern verlangte, zeigt zweifellos sein eigenes, oben
berührtes Verhalten und überdies seine dem sogar in Nothwebr befindlichen
Pelms ausdrücklich gegebene, dem natürlichen Menschen freilich
thoricht, feig, ja ehrlos erscheinende Weisung, sein Schwert einzustecken
und so auf dem Haupte des Feindes feurige Kohlen der Beschämung zu
sammeln, — worin ja eben das unterscheidende Merkmal der neuen Religion
liegen sollte, die zugleich dem höchsten (unter Durchschnittsmenschen freilich
schwer zu verwirklichenden) sittlichen Ideal entspricht. —
Dr. F. Maier.
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