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Seiling: Zar Selbstmordfrage
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Weiterleben die moralische Kraft selbst zu untergraben
droht, wie dies von Herrn Geheirarath Dr. von Seeland im
letzten Dezember-Heft (S, 759) bereits hervorgehoben und
exemplifizirt worden ist. Es sind aber auch andere Fälle
denkbar, wo der Selbstmord zu einer geradezu schönen
That wird.
Beiläufig gesagt, dass ein Werther, der sich aus unglücklicher
Liebe erschiesst, keine Achtung, sondern höchstens
ein mitleidiges Achselzucken verdiene, kann ich im Gegensatz
zu Herrn Dr. v. Seeland nicht finden. Die Geschlechtsliebe
hat doch einen höchst bedeutungsvollen, wenn auch den
Liebenden zumeist unbewussten Endzweck: die Fortpflanzung
des Geschlechtes, beziehungsweise die Verkörperung trans-
scendentaler Subjekte, Der Eigensinn der leidenschaftlichen
Auswahl der Liebenden ist um so grösser, je ausgeprägter
die Naturen hinsichtlich des Charakters und der geistigen
Anlagen sind, beziehungsweise je bedeutender die geistigen
Wesen sind, die sich verkörpern wollen. Ist es nun aber
nicht tragisch, wenn ein grosser Geist sich nicht auf die
ihm zusagende Art verkörpern kann, weil seine „Geburtshelfer
" sich nicht gegenseitig erreichen wollen oder können
und im letzteren Falle sittlich zu hoch stehen, um eventuell
mm Ehebruch zu schreiten? Es kann um die Liebe, „des
Welten-Werdens Walterin,u wie sie von Wagner in „Tristan
und Isolde" genannt wird, bisweilen eine furchtbar ernste
Sache sein, im Vergleich mit welcher jeder andere Lebenszweck
so nichtig erscheint, dass das Leben hingegeben werden
muss, wenn jener Hauptzweck, der im Grunde genommen
metaphysischer Natur ist, nicht erreicht wird. (Sehr tief
und schön gedacht! —Eed.)
Bei dieser Gelegenheit möchte ich ferner einflechten,
dass ich mich nicht damit einverstanden erklären kann,
wenn Herr Prof. Dr. Maier bei der Besprechung von Nietzsche'*
Ausführungen über den Selbstmord das Gewissen ein „innerstes
Gefühl" nennt, welchem niemals zuwider zu handeln als
oberstes Moralprinzip erscheine (August-Heft 1900, S. 488
und 490). Ich theile vielmehr die Ansicht Jener, welche das
Gewissen nicht für etwas Stabiles, Absolutes, sondern lediglich
für ein Wissen, für die Gesammtbeit der jeweiligen
Ueberzeugungen halten, die sowohl geändert werden als irrig
sein können. Wenn die Stimme des Gewissens das Moralprinzip
offenbaren würde, dann gäbe es sehr viele und
einander sehr widerstreitende Moralprinzipe.*) Man braucht
*< Der hochverehrte Heir Verl. «cheint mich hier missverstanden zu
haben. Ich bin weit davon entfernt, das „Gewissen** für etwas Stabiles oder
Absolutes zu halten und stimme seiner Definition bei, dass es lediglich ein
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