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166 Psychische Studien. XXVIIL Jahrg. 3. Heft. (März 1901.)
kein unkritischer Nietz$che-Fm&tiker zu sein, um sich an
der Lust zu ergötzen, mit welcher dieser feine Psychologe
das Gewissen demaskirt hat*) —
(subjektives) Wissen, bezw. die Gesammtheit der jeweiligen (ich würde
beisetzen: moralischen) Ueberzeugungen ist, die sowohl geändert werden
als irrig sein können. Ich anerkenne für die menschliche Erkenntniss überhaupt
nur relative Begriffe und habe nirgends behauptet, dass „die Stimme des
Gewissens das Moralprinzip (NB. als ein absolutes!) offenbaren würde."
Ich kann und wiU auch nicht bestreiten, dass Nietzsche die verschiedenen
möglichen Quellen der sogenannten „Gewissensstimme'' und der vermeintlichen
„moralischen Kraft" mit psychologisch feinem Scharfsinn aufgedeckt hat.
Aber gerade aus der Thatsache des Schwankens, ja Widerstreits der moralischen
Anschauungen zu verschiedenen Zeiten und bei den verschiedenen Völkern
folgere ich, dass dem Einzelnen nichts übrig bleibt, als jenem (NB. durch
fortschreitende Einsicht zu klärenden) „innersten Gefühl", das ihm sagt,
was er im einzelnen Falle thun oder lassen soll, „©ach bestem Wissen
und Gewissen" zu folgen. Dass er sich dabei irrt und, objektiv betrachtet,
falsch oder gar schlecht handelt, ist selbstredend nicht ausgeschlossen. So lange
er es aber nicht besser weiss, trifft ihn dabei nicht nur kein moralischer
Vorwurf, sondern er empfindet auch jenes beseligende Gefühl der Zufriedenheit
mit sich selbst, das die Seelenruhe, die Quelle jedes individuellen
Glücks, bedingt. Was die Moral als solche betrifft, so habe ich in meiner
citirten Schrift (, Ethische Problerne", Frankfurt a. M. 1892) nachzuweisen
versucht, dass sie nichts anderes ist als der naturnothwendige „Ausdruck des
Gleichgewichts der Gesellschaft", der sich als Resultat aus dem Kampf der
eigennützigen mit den gemeinnützigen Trieben ergiebt. Das Sittengesetz
ist darnach eben der durch die sich selbst Gesetze gebende Vernunft auf
Grund der Erfahrung geregelte, bezw. durch die Rücksieht auf andere und
auf das Ganze eingeschränkte Naturtrieb, und die sittliche Aufgabe des
Menschen besteht lediglich darin, den richtig verstandenen allgemeinen
Gesetzen seiner eigenen, zunächst unbewusst thätigen Natur schliesslich
freiwillig und mit klarem Be wusstsein zu folgen, aber so, dass der
augenblickliche Genuss und der persönliche Nutzen sich nicht im Widerspruch
mit einem höheren, von der eigenen Vernunft
erkannten Interesse, einer als allgemein giltig nicht bestreitbaren
Maxime des Handelns, befinden darf. Damit ist dann die unbewusste
Naturnotwendigkeit zur bewussten sittlichen Freiheit
geworden, und dieses höchste ethische Ideal kann der denkende Mensch
im Verlauf seiner Kulturentwickelung thatsächlich erreichen, weil die wissenschaftliche
ErkenntnibS der das ganze Naturleben beherrschenden Ordnungsgesetze
und Vereinigungs- (bezw. Liebe-jtriebe allmählich in
ihm jene „Achtung fürs Gesetz" erzeugt, die Kanl(in seiner „Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten"), als „formelles Prinzip a priori" im Gegensatz zur
„materiellen Triebfeder a posteriori", als charakteristisches Merkmal der
Pflicht bezeichnet. - Dr. F. Maier.
*) Nietzsche sagt z. B. in der „Fröhlichen Wissenschaft", Nr. 33s: „Dein
Urtheil „so ist es recht" hat eine Vorgeschichte in Deinen Trieben, Neigungen,
Abneigungen, Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen; „wie ist es da entstanden>"
musst Du fragen, und hinterher noch: „was treibt mich eigentlich, ihm Gehör
zu schenken?" Du kannst seinem Befehle Gehör schenken, wie ein braver
Soldat, der den Befehl seines Offiziers vernimmt. Oder wie ein Weib, das
Den liebt, der befiehlt. Oder wie ein Schmeichler und Feigling, der sich vor
dem Befehlenden furchtet. Oder wie ein Dummkopf, welcher folgt, weil er
Nichts dagegen zu sagen hat. Kurz, auf hundert Arten kannst Du Deinem
Gewissen Gehör geben. Dass Du aber dies und jene» Urtheil als Sprache des
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