Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Bibliothek, Frei122-Z5
Aksakov, Aleksandr N. [Begr.]
Psychische Studien: monatliche Zeitschrift vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des Seelenlebens
28. Jahrgang.1901
Seite: 167
(PDF, 194 MB)
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Seiling: Zur Selbstmordfrage

167

Nun noch einige Worte über die JPeigheit, mit welcher
die selbstmörderische Handlung behaftet sein soll Ich halte
dafür, dass der vielen Selbstmördern gemachte Vorwurf der
Schwäche und Feigheit nicht gerechtfertigt ist. Denn es
handelt sich beim Selbstmord, wenn man genauer zusieht,
eigentlich nur um einen physiologischen Akt, über welchen
sich Goethe im „Werther" bereits also ausgesprochen hat:
„Die menschliche Natur hat ihre Gränzen; sie kann Freude,
Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen, und
geht zu Grunde, sobald der überstiegen ist. Hier ist also
nicht die Frage, ob einer schwach oder stark ist?, sondern
ob er das Maass seines Leidens ausdauern kann?, es mag
nun moralisch oder körperlich sein: und ich finde es ebenso
wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das
Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den einen Feigen
zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt." In dem
hier gemeinten Sinne könnte man zugeben, dass „der Selbstmord
immer eine krankhafte Disposition voraussetzt," nicht
aber, dass es sich jedes Mal um eine mehr oder weniger
grosse Geistesstörung handelt. Diese beliebte, der Rechtfertigung
dienende Erklärung scheint mir eine Folge der
irrigen Vorstellung zu sein, dass der Selbstmörder ein feiger
und pflichtwidrig handelnder Mensch ist.*)

Gewissens hörst, also, dass Du Etwas als recht empfindest, kann seine Ursache
darin haben, dass Du nie über Dich nachgedacht hast und blindlings annahmst
, was Dir als recht von Kindheit an bezeichnet worden ist; oder darin,
dass Dir Brod und Ehren bisher mit dem zu Theil wurde, was Du Deine
Pflicht nennst. . . . Die Festigkeit Deines moralischen Unheils könnte immer
noch ein Beweis gerade von persönlicher Erbärmlichkeit, von Unpersönlich«
keit sein, Deine „moralische Kraft" könnte ihre Quelle in Deinem Eigensinn
haben — oder in Deiner Unfähigkeit, neue Ideale zu schauen!"

*) Unterzeichneter hat in seiner (auch in einer Zuschrift des Herrn
Prof. Reichel-Berlin, angefochtenen) Fussnote zu den trefflichen Ausführungen
v. Seelands im Dez.-Heft v. J. S. 761 ausdrücklich nur von den
in Wirklichkeit sehr häufigen Fällen, wo momentane Geistesstörung des
Selbstmörders angenommen werden müsse, gesprochen und auch wiederholt
betont, dass Selbstmörder schon deshalb nicht schlechtweg feig genannt werden
können, weil ein ziemlich hoher Grad von physischem Muth dazu gehört, dem
mächtigsten aller Naturtriebe, dem Selbsterhaltungstrieb, zuwider zu handeln.
Dass aber, wenigstens in vielen Fällen, ein noch bedeutend höherer Grad
von moralischem Muth erforderlich ist, um im Gefühl treuer Pflichterfüllung
gegen die Angehörigen, bezw. gegen die Gesellschaft, oder auch
gegen sich selbst, in einer fast unerträglichen Lage auszuharren, als um sich
eine Kugel vor den Kopf zu schiessen, das dürfte doch ausser allem Zweifel
sein! Ich kann auch nicht zugeben, dass ein solcher Märtyrer der Pflicht
nur deshalb das scheinbar kleinere Uebel vorziehen soll, weil er sich etwa vor
dem Tod oder vor möglichen jenseitigen Folgen des freiwilligen Zurücktretens
vom irdischen Schauplatz seiner Handlungen fürchtet oder nicht wagt,
gegen die „Gewissensstimme" zu handeln. Im Gegentheil, und im Gegensatz
namentlich zu Nietzsche, scheint mir der Heroismus der resignirten Kämpfer,


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