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174 Psychische Studien, XXVIII. Jahrg. 3. Heft. (März 1901.)
Bedürfnisse der Menschheit entspringen, wie Schopenhauer
meint, so spricht sich wirklich in dem breiten Erfolge Ilaeckel's
ein Instinkt aus, der religiöse Instinkt der Halbgebildeten,
welche den alten Glauben verloren haben und den neuen
Glauben suchen, welche in Haeckel den Stifter einer neuen
Weltanschauung erblickei). Mit solcher Andacht betrachtet
diese junge Gemeinde ihren Stifter, dass sie ihn bei Lebzeiten
als einen Heiligen verehrt und sein Bild jüngst neben denen
von Spinoza und Goethe zur Anbetung ausgestellt hat. —
Mit dieser Richtung hängt ein anderer Umstand zusammen,
der den Erfolg des Welträthselbuches noch weniger unbegreiflich
erscheinen lässt: die antikirchliche, ja antichristliche
Tendenz. Aber gerade da fällt ein Vergleich mit D. F. Strauss
sehr ungünstig für Haeckel aus. Strauss, der Verfasser des
„Alten und neuen Glaubens", kam von der Theologie her,
Haeckel von den modernen Naturwissenschaften; dennoch war
Strauss ein weitaus freierer Kopf und ein feinerer Geist dazu.
Strauss schrieb für die Gebildeten, Haeckel für die Halbgebildeten
. Straussens Kritik des alten Glaubens ist ein
Meisterstück klarer Logik und eleganter Gelehrsamkeit;
Haeckel arbeitet mit Witzen, die einen Atheisten verletzen
können. Daher der Zorn unabhängiger Männer über die
Verbreitung seines Buches; sie ist „zum Katholisch werden".
Der Zorn hat auch Erich Adickes verführt, die antikirchliche
Tendenz Haeckets anzugreifen, wo nur die Kampfesweise
angreifbar war. Doch weist Adickes selbst sehr gut darauf
hin, dass die orthodoxen Dunkelmänner beider Konfessionen
an den Ausschreitungen der Gegenpartei mitschuldig
sind.
Der schönste und werthvollste Theii der Schrift von
Adickes ist der, in welchem er, auf Kant gestützt, den Nachweis
führt, dass Haeckets sogenannter Monismus nichts weiter
ist als der alte, seit Büchner von den besten Schrittstellern
Deutschlands und Englands überwundene Materialismus, dass
Haeckel nur durch eine höchst unphilosophische Begriffsverwirrung
seine Lehre mit der neueren Erkenntnisstheorie
in Uebereinstimmung bringen kann. Die von Lessing und
Goethe tief empfundene, von Lichtenberg deutlich ausgesprochene
Ueberzeugung, dass der Spinozismus die Weltanschauung der
Zukunft sein werde, wird wieder einmal bestätigt. Spinoza
ist trotz seiner abschreckend strengen und beinahe scholastischen
Ausdrucksweise moderner, als sein vermeintlicher
Schüler Haeckel mit seiner allerneuesten Terminologie, mit
seinen Entwickelungsgesetzen und Zellseelen. Monismus ist
eine sehr wohlfeile Etikette für das Weltganze; das Einheitsprinzip
ist für den ewigen Gegensatz der materiellen und
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