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Borwann: Vorausschauen und Wahrsagen etc. 207
innerungsvermögen den Mensehen nöthigt, auch das der
sinnliehen Gegenwart bereits entrückte Vergangene dem
Wirklichen zuzurechnen. Heisst ihm sonach wirklich auch
alles das, was einmal erlebt war, neben dessen Unerschöpflichkeit
die blosse Gegenwart einerseits zum Stäubchen
einschrumpft, andrerseits erst Bedeutung und unermesslichen
Werth als Glied einer geistig erfassten endlosen Erfahrungskette
sogar im Fluge des kürzesten Augenblicks erschwingen
kann, so wird ihm seine schon hierbei vom sinnlichen in's
geistige Gebiet übergetretene Messung auch die allzeitliche
und gleichzeitige Realität des Gestern, Heute
und Morgen, also die unabänderlich bestimmte Realität
auch der Zukunft zwar etwas schwerer, aber nicht minder
bestimmt verbürgen. Um dieseArt von Wirklichkeit
zu verstehen, muss man in eine rein geistige Anschauung
und Schätzung freilich noch viel tiefer untertauchen, als es
bei der Erinnerung geschieht; aber man kommt zu seinem Ver-
ständniss auch hier auf unfehlbar sicheren Wegen. Immanuel
Kant und Arthur Schopenhauer haben die unumgängliche
Notwendigkeit alles Geschehens in der Erscheinungswelt
dargethan, indem sie darin nicht bloss die Reihe äusserer
Vorgänge nach dem Kausalitätsgesetz, sondern auch die
Bestimmungen unseres inneren Lebens durch dieselben und
unser Einwirken auf dieselben einbegriffen. Wie sie diesen
anscheinenden Zwang mit der Geistesfretheit im wahren
Sinne vereinbarten > davon haben wir am Schlüsse nocli zu
reden. Auf eine lichtvolle Darlegung Schopenhauer'* in seinem
Aufsatz „über das Geistersehen44, in dem er den
inneren Zusammenhang aller Geschehnisse, auch
der scheinbar bloss durch Zufall verbundenen erläutert, habe
ich nach du Prel's Vorgang bereits in meiner Abhandlung
über Cazotte mich bezogen. Ist jener untrennbare Kausalzusammenhang
als eine einzige Nothwendigkeit
alles Geschehens einmal angenommen, so ist von allem
Werden und Vergehen des Kosmos das allumfassende
Gesetz erkannt, von dem es schwer zu begreifen wäre, wenn
es so allgemein zwingen könnte ohne Vernunft zwang.
Ist aber vollends das geistige Individualgesetz in jeglichem
Geschehen einmal vorausgesetzt, wie es Schopenhauer
im Aufsatz über „die anscheinende Absichtlichkeit
im Schicksale der einzelnen" behaupten möchte und
wie es dann als absichtsvoller Zusammenschluss des für
unsere Einsicht Unverknüpfbaren nicht allein bei einzelnen,
sondern im Zusammenleben sämmtlicher Menschen, und nicht
bloss der Menschen, sondern der Thiere und der Pflanzen,
ja im ganzen Naturleben als Universalgesetz zu verstehen
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