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212 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 4. Heft. (April 1901.)
über die stattgehabte Warnung bejahen. Für die
rein psychische Werthung ist es offenbar gleichgültig, dass
der eben erzählte Vorfall, welcher zweifellos eine Warnung
enthält, ohne Traum ganz im Wachen abläuft.
Wäre die Person, deren rufende Stimme das Kind vernimmt
, ein Toter gewesen, würden viele geneigt sein, der
eigenen transscendentalen Dramatisirung
des Kindes die schöpferische Vorstellung einer ihm wohlbekannten
, lieben Stimme im Augenbiicke der von ihm in
supernormaler Weise geahnten Gefahr zuzuschreiben. Dass
nun jene Person aber noch lebte, wird hier nach mehr
als einer Seite belehrend. Man wird sich wenigstens besinnen
, so leicht diesen Fall, der ohne Somnambulismus bei
einem ihm sonst nie unterlegenen und auch im späteren
Leben nie unterliegenden Kinde und zwar in völlig wachem
Zustande und ferner dicht vor der in keiner Weise erwarteten
Gefahr sich zutrug, diesen Fall, der in der ganzen
Zukunft dessen, der ihn erlebte, sich nie wiederholt
bat, allein aus den seelischen Kräften des Kindes zu erklären
. Da ihre Grossmutter, wie die Dame in einem
ferneren Schreiben mir angab, ungefähr um diese Zeit zu
schlummern pflegte, scheint die Erklärung fast wahrscheinlicher
, dass jene im Schlummer fernsehend und fernwirkend
auf die Enkelin eingriff und das Unglück abwandte.*) Jedenfalls
ist der Vorgang geeignet, die supernormalen Kräfte
der Menschenseele noch in den Banden ihrer irdischen
Existenz zu bezeugen, und ohne diese erste und gewisseste
Unterlage okkultistischen Verständnisses würden unsere
sämmtlichen Bemühungen mit kühnsten spiritistischen Aufstellungen
vergeblich sein. Der Fall muss uns warnen,
nicht allzu voreilig zur entkörperten Geisterwelt unsere Zuflucht
zu nehmen. Und doch belehrt er hinwiederum uns
entschieden über die oft naheliegende Möglichkeit der spiritistischen
Erklärung; denn, da man hier Agent und Patient
nicht in einer Person suchen und Einwirkungen aus der
Feme auf den Patienten von anderer Seite annehmen
möchte, wird man unstreitig auch in manchen Fällen, in
*) Zwei ganz entsprechende Fälle bemerkte ich in der okkultistischen
Litteratur. Der eine ist der angeblich durch die Zeugen bekräftigte Fall
der Mary Warren, die schlummernd durch Telepathie den fernen Gatten
aus furchtbarer Gefahr errettete. (S. Psych. Stud. 1882, S. 481.I Der andre
wird von Jesianu im Buche „Wird der Mensch nach dem Tode leben?"
(Jena, Costenoble) ausgezogen aus dem russischen Blatte „J<ebus(t (1888,
Nr. 35). Er betrifft gleichfalls die Rettung aus schwerer Gefahr, die der
Gerettete selbst als wahres Erlebniss erzählt und die er telepathisch erfuhr
durch einen Traum seines fernen Bruders, dessen sich dieser sogar noch
wachend erinnerte.
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