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228 Psychische Studien. XKVII1. Jahrg. 4. Heft. (April 1901.)
wissen, bis zu welcher Höhe sich die Menschenbildung
dereinst erheben wird. Aber sie wird sich erheben, das
wissen wir, und so wird auch über die Bedeutung der
Frau einst Klarheit herrschen, obwohl jetzt Meinung und
Gegenmeinung durcheinander geht.
Vorerst müssen wir wohl ohne jede Unterwürfigkeit
gestehen, dass es auch hier ist, wie so oft im Leben: über
einen Gegenstand, den wir gern haben, den wir lieben, ohne
den wir nicht sein können, wissen wir oft am allerwenigsten.
Wir sind zufrieden mit dem Gefühl, c!ass wir ihn lieben,
und fragen nicht lang nach dem Was und Wie und Warum.
Geschrieben ist schon viel über das Weib, aber wir
wissen ja, dass dicke Bücher noch keine Gewähr sind für
übergrosse Weisheit; und wenn wir einmal dahin gekommen
sind, unser Wissen ohne grosse Verbrämung knapp und
verständlich vorzutragen, dann erst kann sich der Traum
Ton einer allgemeinen Volksbildung erfüllen. Solange aber
die vielgepriesene „Wissenschaftlichkeit" darin besteht, irgend
eine Weisheit so unverständlich als möglich darzustellen,
solange wird das Volk abseits stehen vom Quell des Wissens
und kopfschüttelnd die Weisheit anstarren, die es nicht
versteht, weil sie gar keine Weisheit ist. Ja, wenn sich die
„wissenschaftlichen" Männer einmal die Mühe nähmen, das
Volk wirklich kennen zu lernen, dann würde vielleicht
manche graue Theorie anders lauten, als wie sie jetzt einem
Kreise von Jünglingen vorgetragen wird, die das Volk, über
das sie belehrt werden, ebensowenig kennen.
Das Weib und zumal das Weib des Volkes, wer kennt
es? Wer hat sein innerstes Geheimniss errathen? Wer hat
seine geheimsten Wünsche, seine tiefste Sehnsucht erforscht?
Es hier und da einmal reden hören, es da und dort bei
der Arbeit sehen, es vielleicht einmal examiniren wie ein
Schulkind, ist damit ein Begriff von ihm gewonnen? Und
wer das kranke Weib behandelt und erforscht, kann der
behaupten, er kenne das gesunde? Oder sind sie thatsäch-
lich alle krank? Das ist wohl nicht im Ernst zu glauben.
Es giebt kranke und gesunde wie just bei den Männern
auch, und viele, die an einer eingebildeten Krankheit dahin
siechen, können sich bei den Aerzten bedanken, die jeder
geringfügigen Störung im Organismus eine Bedeutung beimessen
, die sie oft gar nicht hat.
Was man in vergangenen Zeiten über das Weib gedacht
hat, sieht man sehr gut aus den Sagen, die wir von den
verschiedenen Völkern besitzen. Es sei dabei nur an die
Griechen urd B»ömer erinnert, auf deren Bildung wir bis
jetzt vor allem die unsere aufbauen. Welche Bedeutung in
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