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I
Walther: Ueber die psychisehe Kraft des Weibes. 229
deren Göttersagen dem Weibe zuerkannt wird, weiss jeder,
der diese herrlichen Dichtungen einmal kennen gelernt hat.
Merkwürdig dabei ist wohl, dass man die höchste Schalk-
heit und List, die schnelle, geflügelte Rede, Eigenschaften,
die der moderne Mann in dieser Bedeutung nur dem Weibe
zuschreibt, bei jenen in der Gestalt eines Mannes, des
Merkur oder Hermes, versinnlicht findet. Ihm war die
Zunge der Opferthiere geweiht, nicht einer Göttin, einem
Weibe. Ebenso merkwürdig ist auch, dass man in den
Hören (== Jahreszeiten) Göttinnen der Gerechtigkeit verehrte,
welche das schöne Gleichgewicht in der Natur erhalten,
während man heutzutage dem Weibe die Ungerechtigkeit
in der höchsten Steigerung zueignet. Und doch ist wohl
kaum anzunehmen, dass das griechische Weib im Grunde
anders gewesen wäre, wie das Weib unserer Tage. —
Der Philosoph Schopenhauer, welcher von denen, die
gegen die Bedeutung des Weibes eifern, oft zitirt wird,
kann in dieser Frage nicht als massgebend hingestellt
werden; denn er selbst hat den weiblichen Einfluss in seinem
Leben nicht gespürt. Es liegt eine gewisse Verbissenheit in
seinem Urtheile, eine Anklage gegen das Weib, das ihn
allein durch das Leben wandern Hess. Und wenn wir alle
die ungünstigen Urtheile über das Weib prüfen, dann finden
wir, dass hier die Leidenschaft auch mitspricht; denn so
ganz in gerechter Weisheit wägt eben auch der Mann nicht ab.
Ueber die Bedeutung des Weibes als Mutter und
Erzieherin der Kinder sind sich wohl alle vernünftigen
Männer klar. Die Streitfrage aber lautet: Ist das Weib dem
Manne an Geisteskraft gleich? und daraus folgernd: Ist das
Weib fähig, alle die Arbeiten, die jetzt nur der Mann
verrichtet, auch zu bewältigen? Oder auch, da der Mann
als seine höchste Leistung das Studium ansieht: Ist das
Weib auch zum Studium zuzulassen? Diese Fragen bat
man bejaht, man hat sie aber auch verneint; ja auf der
Gegenseite ist man sogar soweit gegangen, dem Weibe,
gegenüber dem Manne, physiologischen Scnwachsinn zuzuschreiben
, es als ein „Bleigewicht" zu bezeichnen, das allen
Portschritt hindernd am Manne hänge. Diese Behauptung
stützt man auf den Nachweis, „dass für das geistige Leben
ausserordentlich wichtige Gehir ntheile, die Windungen des
Stirn- und des Schläfenlappens, beim Weibe schlechter entwickelt
sind als beim Manne, und dass dieser Unterschied
schon bei der Geburt besteht." Die Richtigkeit dieser
anatomischen Wahrnehmungen ist wohl nicht in Frage zu
stellen; aber es ist gewiss sehr zu bezweifeln, ob diese an
wenigen Leichnamen gemachten Wahrnehmungen als Beweise
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