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Walther: Ueber die psychische Kraft des Weibes. 231
In erster Linie möchte ich hier auf meine Arbeit „Ueber
die willkürliche Bestimmung des Geschlechtes unserer Kinder"
(Dresden, bei H. B. Schulze) verweisen, worin man das findet,
was ich hier über die Entstehung des Geschlechtes vortragen
müsste. Daran anknüpfend bemerke ich nur, dass man
schlechthin Mann und Weib nur in geschlechtlicher Beziehung
sagen darf, nicht aber in seelischer, psychischer Hinsicht.
Die zwei grossen Weltkräfte, Anziehung und Abstossung,
wirken im Menschen als männliche (rezeptive) und als weibliche
(produktive) Seelenkraft *) Aber die beiden sind dem
einzelnen Geschlechte nicht getrennt eigenthümlich, sondern
sie wirken in inniger Mischung, wobei bald die eine, bald
die andere überwiegt, bald beide sich auch die Wage halten
können. Daraus ergeben sich eine Menge geistiger Typen,
wovon wir Vertreter in beiden Geschlechtern finden. Es
giebt nicht nur Weiber schlechthin, sondern auch männliche
Weiber und männlichere Weiber und nicht Männer schlechthin
, sondern auch weibliche Männer und weiblichere Männer.
Ja die Mischungen sind so mannigfaltig, dass man einen
rein weiblichen und männlichen Typus nur ideell konstruiren
kann. Es wird natürlich zuerst auffallen, dass die produktive,
die schaffende Kraft die weibliche sein soll und die rezeptive,
die aufnehmende Kraft die männliche. Aber wenn man die
Menschen in dieser Beziehung näher betrachtet, wird sich
auch das leicht bestätigen.
Wenn man z. B. behauptet hat, unser Goethe sei zeitlebens
ein grosses Kind gewesen, und wenn man dann in
demselben Athemzuge hinzufügt, dass auch das Weib zeitlebens
ein grosses Kind sei, da ist ja die auffallende
Aehnlichkeit deutlich aasgesprochen. „Das ewig Weibliche",
von dem Goethe behauptet, dass es uns alle hinanzieht, das
war's, was so mächtig in ihm wirkte, was ihn drängte zu
Produktion und gewaltigem Schaffen. Ja, dieser echt weibliche
Zug, diese Lust am bunten Wechselspiele des Lebens,
dieser Drang, der bald in übersprudelnder Heiterkeit über das
Ziel hinausschiesst, bald „zum Tode betrübt* sich aufbäumt,
er ist das echte Wahrzeichen aller Männer, deren Namen
die Geschichte in das Buch des Genius eingeschrieben hat.
*) Uns scheint im Gegentheil auf psychischem (und speziell künstlerischem),
wie auf physiologischem Gebiet immer noch dem Mann mehr die produktive,
dem Weib mehr die rezeptive Thätigkeit zuzukommen, so hoch wir auch
die Begabung der Frau werthen und so sehr wii für ihre vollige Gleichberechtigung
mit dem Manne in jeder Hinsicht eintreten. Wie erklärt sich aber
sonst die doch nicht abzuleugnende Thatsache, dass es von jeher und überall
verhältnissmässig so wenige Frauen giebt, welche gerade in den (ihnen doch
nicht so schwer zugänglichen) Künsten - bildenden wie redenden — Originalwerke
von bleibendem Werth der Nachwelt hinterlassen haben? — Ked,
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