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Walther: Ueber die psychisehe Kraft des Weibes. 235
Mutterberuf erfüllt, so kann es nicht ein männliches Gehirn
haben." Dass des Weibes eigentlicher Beruf der Mutterberuf
ist, leuchtet ohne weiteres ein, und ich glaube, man
findet selten ein Weib, das nicht von diesen hohen, heiligen
Pflichten ganz erfüllt wäre, bezw. es nicht als den sehnlichsten
Wunsch ihres Lebens betrachtete, einmal Mutter zu werden.
Ob dazu aber Schwachsinn, geistiges Unvermögen unbedingt
nothwendig ist, muss gewiss sehr zweifelhaft erscheinen,
ebenso wie die Behauptung, dass die Gehirnthätigkeit die
Mutterorgane verkümmern lasse. Freilich muss man unterscheiden
zwischen lebensgemässer Gehirnbethätigung und
einseitiger Anstrengung dieses Organes, also Ueberbürdung,
die wir beim Gelehrten durchgängig finden. Der Durchschnittsmann
aber denkt nicht mehr als die Durchschnittsfrau
; ich wüsste auch nicht, was er Besonderes zu denken
hätte. Im Haushalt des Weibes giebt es oft vie) mehr zu
denken, als im einseitigen Beruf des Mannes.
Auf das Politisiren am Stammtisch kann man oft auch
treffend das Bild anwenden, das man auf die Gespräche
älterer „Damen" bezogen hat, nämlich das Bild von der
leergehenden Mühle. Wie diese Gehirnthätigkeit den Geschlechtsapparat
des Mannes nicht verkümmern lässt, wird
sie auch die betreffenden Organe des Weibes in der Ent-
wickelung nicht beeinflussen. Wie das Weib von Natur Mutter
sein soll, so soll der Mann von Natur eigentlich auch nichts
weiter sein als Vater, aber durchaus nicht etwa Gelehrter,
Künstler, Handwerker u. s. w. Das sind doch erst die Polgen
einer Kultur, die leider das Gefühl für Vaterschaft im
Manne sehr ungünstig beeinflusst hat. Wenn es jeder Mann
als seine Pflicht ansähe, mit einem geliebten Weibe in
glücklicher Ehe zu arbeiten und einem höheren Lebensziele
nachzustreben, als es der Durchschnittsegoist sich steckt,
dann würde die Frauenfrage nicht so dringende Antwort
von uns verlangen.*) Wie viel körperliche und sittliche
Kraft, wie viel bittere Schmerzen kostet dem Weibe nur die
Geburt eines Kindes I Ich glaube, da würde sich der männliche
Heldenmuth oft recht kläglich ausnehmen. In diesem
Sinne darf das Weib allerdings kein männliches Gehirn
haben, das rezipirend die Gefahr lieber von sich abwendet.
So steht über der aufnehmenden, männlichen Seelenkraft
die weibliche, die gebärende, mütterliche, die Quelle alles
Portschrittes und alles Lebens. Beide vereint finden wir
sowohl in dem Menschen, der geschlechtlich Mann ist, als
in dem, der geschlechtlich Weib ist. Die Mischungen sind
*) Sehr richtig und schon gesprochen! — Rech
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