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262 Psychische Studien. XXVIO. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1901.)
Weise des Verlierens vorausgeschaut hatte, Sie sagte, dass
sie die Besitzer des Ringes am Sonntag in der Basilika
finden werde. Sie ging dorthin und fand die Besitzer, die
ihr den Ring Hessen. Dr. Jochner, der an dem Vorfall
Interesse nahm, Hess in die „Neuesten Nachrichten" ein
Inserat einrücken, in dem er die Besitzer bat, „im Interesse
der Wissenschaft" ihre Adresse anzugeben. Diese indes,
die wohl auch schwerlich begriffen, welche wissenschaftliche
Bedeutung der Fund eines Ringes haben könne, und von
denen ausserdem die Seherin angab, dass sie als ein Liebespaar
auf geheimen Wegen die Oeffentlichkeit zu scheuen
hatten, erwiderten sogleich in demselben Blatt mit einem
anderen Inserat von ungefähr diesem Wortlaut: „Braves
Mädchen soll den Ring als Lohn der Ehrlichkeit behalten."*)
Vieles, was sie schauen musste, wurde ihr zur Pein
und Qual. So begleitete sie im Geiste den Wagen des
berühmten Chirurgen Nussbaum und folgte mit dem Auge
den Operationen seiner Hand. Durch Särge hindurch sah
sie die Leichen und diese Gesichte machten ihr Schrecken
und Grauen. Den Inhalt von Briefen, die in Bayreuth und
anderswo geschrieben wurden, kündigte sie mit ganzen Sätzen
der Frau 8t voraus an. Dass sie die Zustände ihres eigenen
Körpers (wie das Ausbleiben ihrer weiblichen Perioden)
voraus ansagte, sei auch bemerkt. Nach dem Erwachen aus
somnambulem Schlaf war sie gedrückt und angegriffen.
Manchmal verlangte sie noch im Schlaf nach Dr. Jochner
und meinte, dass sie nicht wieder erwachen werde, wenn
er nicht komme. In solchem Falle schrieb sie z. B. einst
vor, dass man Dr. Jochner am Marienplatz Nr. X suchen
solle, wo ein Klafter Holz gemacht werde. Als man dorthin
schickte, fuhr wirklich Dr. Jochner vor.
Bei dem Widerwillen, welchen das Mädchen selbst gegen
diese Verwandelungen ihres Ich empfand, scheute es jedes
Gespräch darüber und wollte durchaus nicht, dass etwas
davon in der Oeffentlichkeit verlautete.
Als jemand sie mit Heirathsversprechungen kirren wollte,
sah sie nach und entdeckte, dass er Frau und Kinder habe,
worauf sie ihn seiner Wege gehen Hess. Sie hatte auch
hier richtig gesehen. Später hat Mathilde den Aasgeher
einer Buchhandlung geheirathet. Etwa sechs Jahre nach
ihrer Hochzeit rieth sie ihrem Manne vor einem Ausflug
*) Das Zeitungsblatt mit dem Inserat ist bis vor Kurzem in
Besitz der Frau «SV. gewesen. Ich habe in der Expedition der ,Neuest.
Nachr.* mich an die Herakles - Arbeit gemacht, das Inserat in den
Jahrgängen 1868—9 wiederzufinden; doch ging mir dabei der Athem
vorläufig aus. Vielleicht werde ich die Mühe wieder aufnehmen.
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