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264 Psychische Studien. XXVIII. Jahr*. 5. Heft. (Mai 1901.)
Auch die Abneigung Mathilde1», ihre Gabe in das Gerede
der Menschen gebracht zu sehen, findet sich allenthalben
bei jenen Sehern Schottlands, Lapplands u. s. w. wieder,
die ihre Begabung als Heimsuchung betrachten und darunter
oft schwer leiden. Ueberhaupt soll man sich hüten, die
verschiedenen Aeusserungsweiseu des Somnambulismus
schematisoh klassificiren zu wollen; denn alle Abweichungen
sind durch besondere Temperamente und Anlagen der
Individuen und Völker zu verstehen, haben aber sämmtlich
doch den gleichen psychischen Grundkern. Auf dem Gebiete
des Psychischen giebt es eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit
in der Erscheinung einer und derselben Fähigkeit und es
ist ebenso falsch, nach einem gegebenen Falle oder einer
begrenzten Zahl von Fällen alles Uebrige vorurtheilslos zu
bemessen und damit die Freiheit des unerschöpflichen
Geisteslebens zu vergewaltigen, wie es irrig ist, überall Ein-
theilungen mit so und so vielen Sonderfächern zu machen,
womit man hier nie fertig würde. Hat man als ein Kennzeichen
des „zweiten Gesichtes" das mangelnde persönliche
Interesse des Sehers an dem Geschauten hingestellt, soll
man nur nicht meinen, dass deshalb jedes Interesse des
Sehers überhaupt fehle. Dies ist sogar ganz gewiss nicht
der Fall und, wie sich im ganzen All im Wechselverkehr
der JDinge nichts bloss leidend, sondern alles auch in gewisser
Weise thätig verhält, so ist das bei der Aufnahme des
zweiten Gesichtes auch der Fall. Ein psychischer Grund
muss irgendwie vorhanden sein, der den Seher gerade zu
diesem bestimmten Gesichte hinleitet. In unser sinnliches
Gesichtsfeld fallen die äusseren Erscheinungen mit
ihrem Vorn und Hinten, Oben und Unten u. s. w. und wir
bekommen, obwohl nach der neueren Physiologie der ganze
Vorgang des Sehens schon an sich ein aktiver ist, doch eine
Masse Bilder vorgelegt, die wir unbewusst aufnehmen und von
denen wir nur diejenigen intellektuell aufgreifen, welche unsere
Aufmerksamkeit aus diesem oder jenem Grunde fesseln.
Der Seher aber sieht ganz sicher nicht bei seinem supernormalen
Schauen auf ein Mal alles, was je war, ist und
sein wird, vor sich ausgebreitet, und auch er hat ein durch
die besonderen Umstände abgegrenztes Gesichtsfeld; aber,
wenn er sogar alles auf ein Mal erschaute, wäre es um so
weniger erklärlich, weshalb sich nun sein Blick auf
eine besondere Begebenheit heften sollte, die er uns als
seine Wahrnehmung angiebt. W enn sein unmittelbar persönliches
Interesse mangelt, ist zunächst zu bemerken, dass denn
doch Tausende von Menschen — und leider oft — sogar leidenschaftliches
Interesse an Dingen nehmen, die sie persönlich
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