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290 Psychische Studien. XXVIIL Jahrg. 5. Heft. (Mai 1901.)
im Buche Hiob den grossartigen Versuch eines frommen
Herzens und zwiespältigen Koptes, die Antwort auf die
brennende Frage zu finden, warum der Fromme leiden
müsse, während dem Gottlosen es wohl gehe. Aber keine
andere Antwort stellt sich auf diese Frage ein, als die, die
Frage selbst als eine fürwitzige abzuweisen; „Wer mit dem
Allmächtigen hadern will, soll es ihm der nicht beibringen
? und wer Gott tadelt, soll es ihm der nicht
verantworten?" Auch Jesaias hat keine andere Antwort
als die Abweisung der Frage als einer nicht erlaubten:
„Spricht auch der Thon zu seinem Töpfer: Was machst
du? du beweisest deine Hände nicht an deinem Werke" —;
aber auch er bescheidet sich: „Fürwahr, du bist ein verborgener
Gott." Auch Paulus findet keine Lösung, trotzdem
er sich im Römerbriefe durch drei Capitel hindurch,
9—n? damit abquält; — auch er kommt zu keinem andern,
als dem ganz unbefriedigt lassenden Schlüsse: „So liegt es
rächt an Jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes
Erbarmenund greift auf Jesaias zurück, wenn er schreibt:
„Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott
rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister:
warum machst du mich also? hat nicht ein Töpfer Macht,
aus einem Klumpen zu machen ein Fass zu Ehren und
das andere zu Unehren ?a Der Weisheit letzter Schluss blieb
immer, dass Gottes Unerforschlichkeit und souveräne
Willkür von vornherein jede Frage zur Thorheit, jedes
Forschen zur Anmaassung stempeln und zu gänzlicher Erfolglosigkeit
verurtheilen. „Unser Gott ist im Himmel, er
kann schaffen was er will", — darnach haben wir auf Erden
Nichts zu fragen!
Auch die Philosophie hat sich mit diesem Problem
beschäftigt und die klassische Darstellung der Theodicee
hat wohl der Philosoph Leibnitz gegeben, welche er der
preussischen Königin Sophie Charlotte widmete. Auf diese
wie auf ältere und jüngere Theodiceen einzugehen, ist hier
nicht der Ort noch die Zeit, zumal im Grunde jedes philosophische
System eine Theodicee ist; denn es versucht ja,
der Welt Lauf zu begreifen, alles Geschehen in der Welt
zu einem System zusammenzufassen, d. h. von Allem einen
einheitlichen, restlos umfassenden^ erkennbaren, vernünftigen
Grund aufzuweisen.
Dieser dem Menschen eingepflanzte, und darum unver-
tilgbare, durchaus berechtigte Trieb, wie ihn auch Paulus
kennt und anerkennt: „Der Geistesmensch ergründet Alles",
ist aber, wie bekannt, von Seiten der Kirche mit dem Hinweise
auf Geheimnisse, die Gott vermöge der Unerforsch-
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