http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1901/0300
(jubalke: Reltooarnation.
291
lichkeit seiner Rathschlüsse sich vorbehalten habe, abgewiesen
und als menschliche Vermessenheit gebrandmarkt
worden. Nun, es war immer eines der traurigsten Geschäfte
hierarchischer Priester, Geheimnisse zu schaffen, da wo
keine sind noch sein dürfen, anstatt bislang noch nicht Erkanntes
zu erforschen zu suchen. Als ob Christus nicht gesagt
: „Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es
jetzt nicht fragen, darum soll euch der heilige Geist (d. i.
der Geist der Forschung) in alle Wahrheit leiten." Freilich
kann der Nimbus einer Kirche damit so wenig bestehen,
wie priesterliche Bevormundung: der amerikanische Unitarier
Coleridge nannte solche Geheimnisskrämerei: „ orthodoxe
Lügen um Gottes willen".
Der Sachverhalt dürfte in Wirklichkeit folgender sein:
In Gottes allumfassendem Wesen nach Paulus1: „Denn
von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge" unterscheiden
wir sein transscendentes, jenseitiges Sein und sein
immanentes, der gewordenen Welt innewohnendes Dasein.
Der jenseitige, in reiner Subjectivität verharrende Gott
kann ob seiner Unendlichkeit und Schrankenlosigkeit niemals
von der endlichen, beschränkten menschlichen Er-
kenntniss erfasst und erkannt werden. Diesen schöpferischen
Urgrund von Allem, was ist, diese Gottheit, von welcher
die Menschen mehr reden, als sich mit der Ehrfurcht vor
ihrer unerforschlichen Majestät vereinen, vor der Vernunft
verantworten lässt, zu einem „Geheimniss" herabzuwürdigen
, ist mindestens eine Flachheit, da ein Geheimniss jederzeit
mittheilbar ist, zudem meistens von der Selbstsucht oder
vom hohlen, thörichten Dünkel geboren wird. Die Zeiten
der Geheimnisse sind vorüber und nur die Eierschalen des
beschränkten UnterthanenVerstandes einer vergangenen Zeit
machen noch ab und zu den schüchternen Versuch, menschliche
und göttliche Regentenweisheit mit dem Nimbus des
Geheimnisses umgeben und dasselbe als nothwendiges Herrscher
-Requisit begründen zu wollen. Abgesehen von dem
pädagogischen Takte bei der Erziehung, das Kind allmählich
nur in die Erkenntniss des Lebens und seiner Pflichten
einzuführen, geht heute das allgemeine Streben dahin, überall
helles Licht zu verbreiten und alle noch vorhandenen Reste
mittelalterlichen Dunkels zu zerstreuen. Und wie schlecht
angebracht ist auch heutzutage der Missbrauch, der bis zum
Ueberdruss mit dem Worte „göttliche Offenbarung"
getrieben wird, mit dem beliebten Hinweise auf göttliche
Geheimnisse» und zwar gerade da, wo es sich um unsere
eigensten, vitalsten Interessen, um die Frage nach der Herkunft
, Ungleichheit, Ungerechtigkeit, relativen Resultatlosig-
19*
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1901/0300