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306 Psyehisohe Studien. XXVI1L Jahrg. 5. Heft (Mai 1901.)
u. a. alter Völker gegen die verschiedenen Krankheiten eine
grosse Menge von Arzneistoffen in Gebrauch hatten, deren
heilsame Wirkung in langer Erfahrung festgestellt worden
war. Das klingt ganz schön, erklärt aber nichts; denn die
Frage ist die, wie man darauf gekommen, und wie man
erprobte, dass diese oder jene Pflanze — denn aus Pflanzen
wurden die Arzneien bereitet — Heilkräfte besitze. Der
Mensch ist kein Herbivor. Der Urmensch nährte sich vom
Fleische der Thiere, von Muscheln, Fischen, Reptilien oder
von Früchten, im Nothfalle auch von Wurzeln; aber Gras,
Baumblätter, Baumrinde ass er nicht. Wie also hätte man
die Heilkräfte gewisser Gräser, Blätter, Rinden, Blüthen
erproben können? Es ist vernünftigerweise nicht anzunehmen,
dass unsere halb oder ganz wilden Ahnen gewisse Pflanzen-
theile lediglich zu dem Zwecke gekaut hätten, um ihre
Wirkung auf unsern Organismus herauszufinden. An derartige
Experimente hat man noch viel später nicht gedacht.
Nach den historischen Nachrichten war Galenus (2. Jahrh.
n. Chr.) der erste, der durch Experimente an Gesunden
die Wirkung der Arznei festzustellen suchte. Lange Zeit
nach ihm ist kein Fortschritt in der Heilkunde zu beobachten
, bis endlich durch Paracelsus (1493—1541) in dieser
Beziehung ein Fortschritt eintrat, in dessen Lehren freilich,
wie Meyer*8 Lexikon bemerkt, die Mystik noch eine grosse
Rolle spielte.
Man kann also nur das Eine annehmen, dass unsere
Vorfahren einen ähnlichen Trieb wie die Thiere gehabt
hätten, so dass sie in Erkrankungsfällen instinktmässig die
Pflanzen aufsuchten, von denen sie Heilung erhofften. Nun
ist bei wilden Völkern noch heute zu beobachten, dass
Gehör, Gesicht, Geruch bei ihnen viel schärfer sind, als
bei dem Kulturmenschen, aber ein Instinkt für heilkräftige
Pflanzen ist nirgends zu beobachten. Diese Hypothese lässt
sich also nicht aufrecht halten. Zudem ist der wilde Mensch,
wie das wilde Thier, nur selten krank, bei seiner einfachen,
natürlichen Lebensweise vielmehr sehr gesund und abgehärtet
, so dass er selten Heilmittel nöthig hat; der Tod
tritt, wenn nicht durch äussere Gewalt, meist durch Alterschwäche
ein.
Es kann also der Ursprung unserer Kenntniss der
Arzneien nicht zurückgeführt werden auf die durch Experimente
allmählich gewonnene Erfahrung, nicht auf den
Zufall, nicht auf einen natürlichen Trieb; Thatsache aber
ist es, dass schon in den ältesten Zeiten zahlreiche Heilmittel
in Gebrauch waren, Woher stammt nun unsere
Kenntniss davon?
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