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310 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1901.)
five o'cloek eine aus Geburts- und Geistesadel zusammengesetzte
Gesellschaft. Zu einer der eigenthümlichsten Ver-
nissagefeiern war man geladen. Dem grossen Publikum
werden die Kunstwerke aus der vierten Dimension erst im
Monat April in einer Separatausstellung zugänglich gemacht
werden. Schon einmal war an dieser Stelle von dem seltsamen
Phänomen die Rede, dessen Bekanntschaft wir nun
aus unmittelbarer Nähe machten. Zunächst möchte ich
betreffs des Aeusseren des genialen Doppelkünstlers Folgendes
konstatiren: Fernand Desmoulin ist eine schöne, überaus
sympathische Erscheinung; schwarze, lebhaft und freudig
blickende Augen, feingeschnittene, regelmässige Gesichtszüge
, von unversiegbarer pariserischer Liebenswürdigkeit,
und nicht nur ein Bild der Gesundheit, sondern, wie er
selbst äusserte, sei er, zum Aerger der Aerzte, geradezu
unerlaubt gesund und widerstandsfähig. Selbst die jedem
Künstler gestattete und zugemessene Portion Nervosität
besitzt er nicht. So, immer terre ä terre im Mittelpunkte
des künstlerischen, litterarischen und politischen Lebens
stehend, hatte er weder Zeit, noch Neigung, noch Gedanken
für die übersinnliche Welt. Seit 25 Jahren intimer Freund
von Zola, man kann sagen sein Kampfgenosse, lebte er nur
einer ernsten Thätigkeit, die ihn in die Reihe der ersten
Graveure und der tüchtigsten Maler stellte, bis im Juni
1900 Fernand Desmoulin sein zweites Ich entdeckte, eine
neue eigenartige Künstlerindividualität. Dies kam so: In
einer Gesellschaft citirte man nach Tisch, vielleicht um dem
eigenen Geist Ruhe zu gönnen, die Geister Verstorbener.
Desmoulin interessirte und intriguirte diese für ihn ganz
neue Unterhaltung. Nach Hause zurückgekehrt, noch im
Frack, hatte er nichts Eiligeres zu thun, als sich an den
Tisch zu setzen, den Bleistift in die Hand zu nehmen und
die Geister zu rufen, die sich vorher so willfährig zeigten.
Es gelang ihm schneller als er hoffte. Er bekam konvulsivische
Zuckungen. Die Hand zitterte, spraug von einem
Ende des Papiers zum andern, machte in leidenschaftlich
erregten Bewegungen grosse, mächtige Linien auf dem Papier,
die zunächst an das alte Volkslied: „Ich weiss nicht, was
soll es bedeuten" erinnerten. Bei jedem erneuten Versuch
wurden die Resultate überraschender, und jetzt hat sich
aus dem einen Menschen ein zweiter entwickelt, dessen
künstlerische Produktion mit dem ersten absolut nichts zu
schaffen, nichts gemeinsam hat. Nicht nur, dass die im
„Trance44 vollführten Zeichnungen, zu denen ein Roth-, ein
Blau- und ein Bleistift Verwendung finden, Kunstwerke
von wahrhaft auserlesener Originalität und Schönheit sind,
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