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344 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1901.)
unleugbar ein nicht zu unterschätzender Faktor bei der
Lösung unserer Lebensaufgabe sind, fordert das Christenthum
von allen das gleiche Lebensresultat nacb Eph. 4, 13: „So
sollen wir Alle hinankommen zu einerlei Glauben und Er-
kenntniss des Sohnes Gottes, und ein vollkommener Mann
werden, der da sei in dem Maasse des vollkommenen Alters
Christi"*) Wo bleibt da die Verheissung, dass Zion soll durch
Gerechtigkeit erlöst werden, was soll das Hungern und
Dürsten des gläubigen Gemüthes nacb Gerechtigkeit, wenn
die Natur oder Gott selbst so ungerecht verfährt bei der
Einstellung des Menschen in seine Lebensarbeit, wenn er
so ungleich abwägt zwischen Arbeitspensum und Arbeitsmitteln
; wo bleibt das Oausalitätsbedürfniss des denkenden
Geistes, wenn dasselbe von Gott selbst, der Weltursache,
so wenig Berücksichtigung findet, ja seinem Gegentheil,
einer Willkür Platz machen muss, wie sie brutaler und
widerwärtiger nicht vorgestellt werden kann?
Und noch ist das Maass der alten Psychologie nicht
voll! Das Kind hat kaum die ersten Schritte m dieses
Leben gemacht, so zeigt sich schon eine wieder nicht auszudenkende
Verschiedenheit der intellektuellen und sittlichen
An lagen, quantitativ wie qualitativ, so zu sagen eine
Verschiedenheit in der Wurzel, die später nothwendig auch
nur in dieser, in das Leben hinein mitgebrachten Eigenart
sich ausleben, auswirken kann, denn ein schlechter Baum
kann nicht gute Früchte bringen und ein guter Baum kann
nicht schlechte Früchte bringen. Von vornherein also ist
unser Leben und sein Ertrag in grossen Zügen, in seinem
Hauptcharakter unverrückbar festgelegt: essentiell wie
graduell müssen die Ziele den Anlagen entsprechen, und
zwar sind dieselben in ihrer Ungleichheit und Verschiedenheit
so unfrei und unverantwortlich, so durchaus dem
sogenannten freien Willen und Streben entzogen, dass sie
keinen Maassstab für die Werthung des Menschen abgeben
können, geschweige denn, dass eine gleiche, für alle Menschen
erreichbare Bestimmung vorausgesetzt werden kann. Mit
Holzäpfeln werden Schweine gemästet, die Goldparamäne
schmückt des Königs Tafel. —
Diesem Nothstande hilft die Kirche damit ab, dass
göttliche Gnade ausgleichen soll alle die Unebenheiten in
der Anlage, in der Lebensauffassung und Lebensführung,
wie im Lebensresultat, so dass alle geistige und seelische
*) Eigentlich: zum vollkommenen Mann, zum Maa&se de>. vollen
Alters (al. Wuchses) gelangen, d. i. die ausgewachsene Mündigkeit
des (J-eihtes nach dem Vorbild Chrtsu erreichen. — ßcd.
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