http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1901/0357
348 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1901.)
Auch im Neuen Testamente geht aus vielen Stellen deutlich
hervor, dass die Anerkennung dieser Lehre zur Zeit Jesu
ganz allgemein war. In diesen Anschauungen war nicht nur
Jesus aufgewachsen, sondern sie waren zu damaliger Zeit
jedem Israeliten ganz geläufig. Das zeigt sich durchweg in
allen Evangelien; so bei Johannes im Anfange des 9. Kapitels
die Frage der Jünger, ob der Blindgeborene oder seine
Eltern gesündigt haben, dass er blindgeboren sei. In der
Vermuthung, dass das Blindgeborensein eine Wiedervergeltung
früherer Sünden sei, liegt die unabweisbare
Annahme enthalten, dass er in einem Leben vor seiner
jetzigen Geburt gesündigt haben müsse. Eine ebenso deutliche
Sprache reden die vielerlei Stellen, in denen Herodes
und das Volk Vermuthungen aufstellen, was Jesus oder
Johannes der Täufer in ihrem vormaligen Leben gewesen
seien. Von Johanne* dem Täufer sagt Jesus selbst, dass er
der wiedergekommene Elias gewesen sei. Jesus hat also nicht
nur dieser im Morgenlande allgemein verbreiteten Erkenntniss
der Wiederverkörperung nicht widersprochen, sondern er
hat sie auch bestätigt. Sie zwar ausdrücklich zu lehren,
dazu lag damals kein Grund vor, eben da sie Keinem fremd
war. Wie uns Hieronymus bestätigt, pflanzte sie sich auch
als esoterische Lehre der Auserwählten in den ersten
Christengemeinden als Tradition fort. Noch der Kirchenvater
Origines hielt diese Lehre für das einzige Mittel, gewisse
biblische Erzählungen zu erklären, die den Gipfel der
Bosheit zeigen würden, wenn sie nicht durch die guten oder
bösen Handlungen eines diesem Leben vorangegangenen
Daseins gerechtfertigt würden. Hervorragende Kirchenväter
tragen sie offen vor und erst unter Justinian ward diese
Erkenntniss auf dem fünften ökumenischen Concile verketzert
und hat im Mittelalter sich nur noch bei einzelnen
Mystikern erhalten. Uebrigens ist die Lehre von der Wiederverkörperung
auch der gesunde Kern der christlichen Lehre
von der „Auferstehung des Fleisches." —
: Der fraglos hervorragendste Zeuge des Mittelalters für
die Wiederverkörperungslehre ist aber Giordano Bruno, der
von der katholischen Kirche des Scheiterhaufens gewürdigt
wurde, an welchem am 17. Februar 1900, als an der
400jährigen Wiederkehr des Tages seines hehren Opfertodes
, das Feuer der Begeisterung aller Geistesfreien sich von
neuem entzündete und das Bild dieses Dichters und Sehers
von Gottes Gnaden verklärte. Vor dem Inquisitionsgerichte
befragt, ob er dem Glauben an eine Wiederverkörperung
nach dem Tode huldige, erklärte er ausweislich der Vene-
tianischen Inquisitionsprotokolle, dass er zwar im katholischen
a*
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1901/0357