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352 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1901.)
Aberglaube. Wenn die Einsicht aber selbst noch hypothetisch
ist, wenn sie mit einem „das kann nicht sein" vorneinend
auftritt, selbst aber ihrerseits nicht anzugeben vermag, wie
es denn eigentlich ist oder zugeht, so ist auch keine Ueber-
einstimmung darüber herzustellen, wo in gewissen Fällen
der Aberglaube beginnt oder aufhört. Als die Naturwissenschaft
, die mit dem Niedergang der deutschen Philosophie
diejenige Machtvollkommenheit für sich beanspruchte, die
jene bis dahin besessen hatte, die „existirende Immaterialität", ,
die Hegel für den „Geist4* noch hatte bestehen lassen, ausstrich
, war ein solcher Fall eingetreten.
Was die Naturwissenschalt mittelst ihrer exacten
Beobachtung festgestellt zu haben glaubte, oder, ihrer
Forschungsmethode unbedingt vertrauend, noch festzustellen
hoffte, das steckte nunmehr das Gebiet und die Grenzlinie
der tatsächlichen Wirklichkeit ab. Was sich ausserhalb
dieser Grenzlinie bewegte, ward für Aberglaube oder Einbildung
erklärt. Eine „existirende Immaterialität" lag
ausserhalb der Grenzlinie. Zwar war auch früher schon aller
sogenannte Mysticismus, dies „Hineinragen einer Geisterwelt
in die unselige", mit Schubert zu sprechen, in weiten Kreisen
stets mit Misstrauen betrachtet und angefochten worden;
aber diese Anfechtung hatte viel weniger zu bedeuten gehabt,
weil der sogenannte Aberglaube (an Spuk. Gespenster, über
das Natur geschehen hinausgreifende Vorgänge u, s. w.) immer
eine gewisse Deckung an dem Glauben gehabt hatte, mit
dem er in verwandtschaftlichen Beziehungen stand. Der
Aberglaube schien gewissermassen nur ein zu weit ausgedehnter
Glaube zu sein. So lange dieser und mit ihm
also ein Reich des Transseendentalen in populärer Auffassung
in Ehren bestand, konnte das Uebernatürliche im Prinzip
nicht angefochten werden. Nur über die Ausdehnung
desselben mochte, je nach subjektiven Eindrücken und Erfahrungen
, gestritten werden. Anders war's, als seit Strauss
und Feuerbach das Religiöse einerseits und das Metaphysische
andererseits ins Schwanken geriethen und an ihre Stelle die
Naturwissenschaft mit der souveränen Machtvollkommenheit,
„das letzte Wort" zu sprechen, trat. Eine Berufung von
seinem Tribunal an ein höheres oder anders geartetes wurde
nun nicht mehr anerkannt und somit war denn die Ver-
fehmung alles dessen, was eine Formel für sich beanspruchte
oder sich auf gar keine Formel der Naturkompendien bringen
Hess, rechtskräftig geworden.
Dieses Verdict stiess indessen mit einem Gegner zusammen
, der zwar keine wissenschaftliche Autorität besass,
aber die selbsterlebte Erfahrung, ein sehr gewichtiges
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