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Walther: Ueber die psychische Kraft des Weibes. 363
da, aber noch nicht fertig produzirt. Man bedenke ja wohl,
dass Produktionskraft noch nicht Produkt ist. Freilich
kann der Mann, in Folge seines Ueberschusses an Rezeptionskraft
dem Weibe gegenüber, seine Arbeiten besser ausstatten;
doch dies mag wohl einen wissenschaftlichen, kann aber
keinesfalls den allgemeinen Werth bedingen, der dem
Fortschritt der Menschheit zu Gute kommt. Die direkten
Beweise für die grössere Produktionskraft des Weibes —
der praktische sowohl als auch der psychologische, — sie
liegen beide noch in der Zukunft; denn erstens hat das
Weib jetzt eben erst angefangen selbstständig zu denken
und zu arbeiten in der Oeffentlichkeit, und zweitens haben
wir wohl experimentelle Darstellungen der männlichen
Psyche, aber nicht der des Weibes, nicht
der Typen, in denen doch die beiden Kräfte verschieden
von einander wirken, so dass vielleicht doch einige Verschiebungen
oder Erweiterungen der bis jetzt bekannten
Gesetze eintreten könnten. —
An allem diesem jedoch ist nicht das Weib schuld;
man gebe ihm Bildung und es wird sie zu verarbeiten wissen,
ja für mich steht die Ueberzeugung fest, dass sich die
Zukunft unserer Kultur eben unter diesem Gesichtspunkte
weiter entwickeln wird. Damit will ich nicht sagen, dass
gerade die Frauen, die das junge Reis ihrer besseren Zukunft
mit Treibhauswärme emporbringen möchten, bereits Früchte
daran ernten können, im Gegentheil, nicht Geschrei, nicht
äusserer Zwang wird den Fortschritt bedingen, sondern
stille unermüdete Arbeit.
Freilich kann das Weib neben seinen häuslichen Arbeiten,
so wie jetzt die Dinge stehen, wenig dazu beitragen; aber
wie es im Geiste des Mannes allmählich hell wird über die
Bedeutung seiner Lebensgefährtin, so wird auch die Sonne
ihres Glückes immer höher emporsteigen. Dass dies in absehbarer
Zukunft geschehe, liegt allerdings auch mit in
ihrer Hand.
Man klagt heute in „gebildeteren Kreisen" oft darüber,
dass das Weib den Mann nicht verstehe. Aber wie kann
es denn anders sein? Der Unterschied in der Bildung ist
oft gar zu gross, und wenn der Mann nicht einsichtsvoll
genug von seiner eigenen Vorbildung der Gattin etwas
ablässt, anstatt sich in seinen „Club46 zurückzuziehen, wie
soll da dieses arme Weib einen solchen Mann verstehen?
Bei alledem möchte ich besonders noch eins hervorheben.
Ich habe mich auf diese Streitfrage nicht eingelassen, um
„auch etwas*4 mitzureden zu Gunsten der Frau; o nein, mir
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