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Tolstoi'» Glaubensbekenntniss
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eine um so grössere Glückseligkeit, jemehr wir zu lieben
gelernt haben; ich glaube ausserdem, dass dieses Wachsen
der Liebe mehr als alles andere dazu beitragen wird, auf
der Erde das Reich Gottes zu gründen, d. h. eine Organisation
des Lebens, in der die Uneinigkeit, die Lüge und die
Gewalt allmächtig sind, durch eine neue Ordnung zu ersetzen,
in der die Eintracht, die Wahrheit und die Brüderlichkeit
herrschen werden. Ich glaube, dass wir, um in der Liebe
fortzuschreiten, nur ein Mittel haben: das Gebet. Nicht das
öffentliche Gebet in den Kirchen, das Christus ausdrücklich
verworfen hat (Matth. 6, 5—13), sondern das Gebet, für das
er uns selbst das Beispiel gegeben hat, das einsame Gebet,
das in uns das Bewusstsein des Sinns unseres Lebens und
das Gefühl, dass wir allein von dem Willen Gottes abhängen,
kräftigen soll. Es ist möglich, dass meine Glaubenssätze die
einen oder die anderen beleidigen, betrüben oder ärgern,
es ist möglich, dass sie beunruhigen und missfallen. Es ist
nicht in meiner Macht, sie zu ändern, wie es nicht in meiner
Macht ist, meinen Körper zu ändern. Ich muss leben, ich
werde sterben müssen — und das wird bald sein —, alles
das interessirt nur mich. Ich kann nichts anderes glauben,
als was ich glaube, in der Stunde, in der ich mich vorbereite
, zu dem Gott zurückzukehren, von dem ich ausgegangen
bin. Ich sage nicht, dass mein Glaube der einzige
unbestreitbar wahre für alle Zeiten gewesen ist, sondern ich
sehe keinen anderen einfacheren, klareren, der den Bedürfnissen
meines Geistes und meines Herzens besser entspräche.
Wenn sich mir plötzlich ein anderer offenbarte, der mich
besser befriedigte, würde ich ihn auf der Stelle annehmen,
denn Gott liegt nur an der Wahrheit. Zurückkehren jedoch
zu den Lehren, von denen ich mich um den Preis so vieler
Leiden emanzipirt habe, kann ich nicht mehr. Der Vogel,
der aufgeflogen ist, wird nicht mehr in die Eierschale
zurückkehren, aus der er hervorgegangen ist. . . Ich habe
damit begonnen, die orthodoxe Kirche mehr als meine Ruhe
zu lieben; dann habe ich das Christenthum mehr als die
orthodoxe Kirche geliebt; jetzt liebe ich die Wahrheit mehr
als alles auf der Welt. Aber bis jetzt fällt die Wahrheit
für mich mit dem Christenthnm zusammen, wie ich es verstehe
. Ich bekenne also das Christenthum, und meinen
Bemühungen, meine Handlungen meinen Glaubenssätzen
entsprechend zu gestalten, verdanke ich es, dass ich im
Frieden und in der Freude lebe und auch im Frieden und
freudig dem Tode entgegengehen kann.
Moskau, 4./17. April. Leo Tolstoi.*
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