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368 Psychische Studien. XXV1I1. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1901.)
Der Augenblick des Todes.
(Eine psychophysiologische Studie.)
Unerachtet der weisen Lehren und des Vorbildes des
Sokrates sehen noch viele Menschen mit Furcht dem Augenblicke
entgegen, der für uns Zeit und Ewigkeit scheidet —
dem Augenblicke des Todes. Indes haben die Aerzte längst
festgestellt, dass der Tod selbst thatsächlich als eine
Erlösung, als ein schöner, keineswegs schmerzlicher lieber-
gangszustand empfunden wird, und dass hiermit nicht die
Erscheinungen zu verwechseln sind, die aus einer dem Tode
vorangehenden schmerzvollen Krankheit entspringen.
Aber was geht nun im Menschen vor, wenn er sich dem
Tode nähert? Da die Beantwortung dieser Frage jedem
Menschen von Interesse ist, so ist sie der Gegenstand vieler
Studien gewesen, und erst neuerdings wieder haben einige
französische Gelehrte, wie V. Eggec, Dr. Sollier und de Varigny,
die Materialien zusammengestellt, die erreichbar waren. Das
sind natürlich nicht allzu viele, aber man erhält durch sie
immerhin einen Fingerzeig. Es handelt sich hierbei um
Aufklärungen von solchen Personen, die im letzten Augenblicke
vom Tode errettet worden sind, und diese Erfahrungen
sind vielleicht nicht einfach auf die anzuwenden, die an
ihrem Alter sterben. Aber man ist doch wohl berechtigt,
zu vermuthen, dass die Letztgenannten, deren Leben mangels
der Erneuerung der Lebenskraft langsam verlöscht, in Bezug
auf die Art ihrer Empfindungen kaum ungünstiger gestellt
sind, als diejenigen, die mitten in ihrer ungeschwächten
Lebenskraft dem Tode von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten
.
Nun ist es hinlänglich bekannt, dass Löwenjäger und
andere, die sich in den Klauen und Zähnen wilder Thiere
befunden haben, übereinstimmend erklären, dass die Kralle,
die ihr Fleisch zerriss, und die Zähne, die sich in Arme
oder Beine einbohrten, ihnen keine Schmerzen, sondern im
Gegentheil eine Art behaglicher Erschlaffung verursachten.
Erst wenn sie befreit waren und die Folgen der Bisse oder
Bisse sich geltend machten, begannen sie Schmerzen zu
empfinden. Aehnliches berichtete uns selbst ein Bekannter,
der das Unglück hatte, in einem Flusse mit dem Boote
umzuschlagen und nach langer vergeblicher Gegenwehr von
einer reissenden Strömung zu einem tiefen Wehr und damit
anscheinend zum sicheren Tode getrieben zu werden; er
trieb nach Aufgabe seiner Bemühungen in einer friedlichen
Betäubung dahin. Und auch die Ermittelungen der Franzosen
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