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370 PsycMsohe Studien. XXVIII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1901.)
Mann, der ja als scharfer Beobachter nicht unbekannt ist,
nämlich — Darwin, erzählt, dass er als Schuljunge, wie er
einmal in Shrewsbury auf dem Walle spazieren ging, von
einer Höhe von 7 bis 8 Fuss herabfiel, und dass die Zahl
der Gedanken, die in diesem kurzen Augenblicke seinen
Geist durchliefen, überraschend war.
Ein französischer Militär, Namens Derepas, erzählt aus
dem Jahre 1870: „Am 2. Dezember lag ich mit zerschmetterter
Hand 50 Schritt von den Preussen. Die Kugeln pfiffen so
anhaltend um mich, dass ich meinen Tod als unausbleiblich
ansah. In diesem Augenblicke trat mein ganzes Leben bis
in seine geringsten Einzelnheiten mit ausserordentlicher Klarheit
vor mich. Ich glaube noch vor meinem inneren Blicke
dies vollkommen scharfe und klare Bild zu sehen."
Geht man diesem Phänomen der panoramenartigen
Erscheinung des vorangegangenen Lebens
im Augenblicke des Todes näher zu Leibe, so scheint
es, dass die Vision aus einer ziemlich beschränkten Anzahl
von Szenen zusammengesetzt ist, die die Einbildungskraft
später vergrössert. Kinder, deren Ich aus weniger zahlreichen
und klaren Elementen sich zusammensetzt, haben diese Erinnerungen
fast nie; sie denken blos daran, dass sie ihre
Eltern nicht wiedersehen sollen. Dafür giebt es zahlreiche
Beispiele. Nun ist es allerdings in dieser Hinsicht gewiss,
dass es Erwachsene giebt, die noch Kinder sind, und Kinder,
die besonders entwickelt sind, deren Bewusstsein ihren Jahren
vorauseilt. Als Beispiel kann ein französischer Schuldirektor
genannt werden, der in seiner Jugend bereits als ungewöhnlich
intelligent galt, überdies aber zeitig durch Sorgen reifte,
indem er seinen Vater, dann zwei Brüder, darauf seine
Mutter und endlich seinen besten Freund verlor. Das alles
geschah zwischen seinem 4. und 7. Lebensjahre. Er war
8% Jahre alt, als er in einem Brunnen, aus dem er oft mit
einem schweren Kroge Wasser holte, beinahe ertrunken
wäre. Er erzählt darüber: ^Eines Tages glitt mein Fuss
aus und das Gewicht des Kruges trug dazu bei, dass ich
in den Brunnen hinabfiel. Es erschien mir als ein Zeitraum,
dessen Dauer ich jetzt nicht ermessen kann, der mir aber
jedenfalls unendlich lang vorkam, bis ich meine Gedanken
soweit sammelte, dass ich an den Versuch dachte, festen
Fuss auf den Stufen zu fassen und auf allen Vieren in die
Höhe zu klettern. Darauf hatte ich ein ganz klares Gefühl
davon, dass dieser Versuch vergeblich sein würde und dass
ich sterben müsse; ich blieb unbeweglich, während das
Wasser mit starkem Geräusch mir in Ohren und Mund
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