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372 Psychische Studien. XXVIIL Jahrg. 6. Heft. (Juni 1901.)
eine aussergewöhnliche Schärfe. Nach dem Erwachen aus
einer Ohnmacht rief sie: „Ach, wie weit war ich weg! Wie
schön hatte ich es!" Und sie erzählte darauf, dass sie bei
dem Gefühl, dass sie das Bewusstsein verlor, ein ausserordentliches
Wohlbefinden empfand. — Man darf mit
Rücksicht auf die wissenschaftlichen Erfahrungen behaupten,
dass unser grosser Dramatiker Schiller die Empfindungen
der Jungfrau von Orleans im Augenblicke ihres Todes
instinktiv sowohl psychologisch wie physiologisch richtig
geschildert hat:
* . . . Leichte Wolken tragen mich,
Der schwere Panzer wird zum Fliigelkleide . . .
Kurz ist der Schmerz und ewig i*t die Freude/
Allerdings haben Ertrinkende neben den erwähnten Phänomenen
auch schmerzhafte Brustkrämpfe erwähnt; aber
derartige Vorkommnisse scheinen doch nicht häufig zu sein.
Für die meisten Individuen kommt nun allerdings der
Tod erst nach viel längerer Vorbereitung. Wir wissen, dass
bei schmerzhaften Krankheiten der Tod oft als eine Erlösung
herbeigerufen wird, und alle, die viele Menschen
haben sterben sehen, sind darin einig, dass gerade der
Augenblick des Todes durch ein angenehmes, ein Glücksgefühl
*) bezeichnet wird, so dass viele unmittelbar davor
die Empfindung haben und aussprechen, als ob sie nun
genesen und dem Leben zurückgegeben werden würden. Das
ist auch physisch erklärlich genug, da der Tod fast immer
der Abschluss einer Asphyxe ist. Der Altersschwache, der
Verwundete, der an Blutverlust leidet, der Kranke, der
an einem edleren Organe angegriffen ist, das also seine
Funktion nicht mehr erfüllt, — sie alle unterliegen einer
Blutveränderung, die den Mangel an dem lebenspendenden
Sauerstoffe und die Anhäufung der Kohlensäure, des anästhe-
tisirenden Stoffes, des Fühllosigkeitsstoffes, zur Folge hat
Daher sieht man den Sterbenden nach Luft schnappen, die
Haut ist brennend heiss oder mit Schweiss bedeckt, und die
an dem Todtenbette Stehenden werden von Mitleid erfasst,
indem sie in alledem Zeichen schwerer Leiden in dem
sogenannten Todeskampfe erblicken. Aber das ist nicht
der Fall. Wenn sich diese Zeichen zeigen, hat die barmherzige
Kohlensäure schon ihr Werk gethan, das Gefühl
genommen, das Bewusstsein betäubt.
*) Darauf weist auch der bei Todten so häutig zu beobachtende
Gesichtsansdruck des Lächelns (sogar nach überstandenen schweren
Leiden) ganz unzweideutig hin. — Ked.
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