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Die Curie-Strahlen.
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Gewöhnlich ist also der Todeskampf schmerzloB.
Selten klagt der Sterbende. Selbst wenn das Bewusstsein
klar erseheint, lebt der Sterbende eher in der Vergangenheit
, als in der Gegenwart, und die Ruhe, die man oft als
das Produkt einer ausserordentlichen Willenskraft ansieht,
ist ein Zeichen wirklicher Gefühllosigkeit. „Hätte ich nur
die Kraft, eine Feder zu halten", murmelte W. Hunter wenige
Augenblicke vor seinem Tode, „so wollte ich sie benutzen,
um auszudrücken, wie leicht und gut es ist, zu sterben."
(G. A. Reuth)
Die Carle-Strahlen,*)
Von Mduard SokäL
Der geniale Chemiker August Kekule legte vor ungefähr
zehn Jahren bei der Jubiläumsfeier der von ihm aufgestellten
Benzoltheorie eine merkwürdige psychologische Beichte über
den Modus seiner wissenschaftlichen Schaffensthätigkeit ab.
Die Gestalten der Atome und Moleküle verfolgten ihn mit
visionärer Gewalt, drängten sich in seine Träume und liessen
ihn auch auf seinen einsamen Spaziergängen nicht allein.
Eines Tages, als er in London von einem Besuche bei seinem
Freunde Armstrong zurückkehrte und, hoch auf dem Bock
des Omnibus zurückgelehnt, die fahlen Lichter der Biesenstadt
überblickte, nahm der Hexentanz der Moleküle ein
ganz besonders lebhaftes Tempo an. In tausend Verschlingungen
nahten ihm dieselben, jagten toll durcheinander,
schlössen sich zu mannigfaltigen Ketten, die sich zusammenfügten
und dann wieder gesprengt wurden. Vor seinem
geistigen Auge gaukelten die Phantasiebilder der Atomketten
hin und her; er sah, wie zwei solche Gebilde sich aneinander
reihten, wie sie von grösseren umschlungen wurden und wie
das Ganze von anderen ähnlichen Systemen in Bewegung
gesetzt wurde. Zu Hause angelangt, verbrachte Kekule den
Rest der Nacht damit, diese „schaurig süssen Orgien" des
Gedankens in begreiflich klarer JForm niederzulegen und zu
gestalten. Auf diese Weise entstand die Strukturtheorie
und in weiterer Folge die Benzoltheorie.
Dieses psychologische Dokument, von einem der grössten
deutschen Naturforscher ausgestellt, erscheint uns von zwiefachem
Werth. Es zeigt wieder einmal — für diejenigen,
die etwa daran zweifeln sollten —, dass auch der wissen-
*) Curie, ies rayons de Becquerel et le polenium. Revue
g6n6rale des Sciences (30. Januar 1900 und folgende Hefte). (Wir
entlehnen diese Besprechung der „Litterarischen Rundschau" des
„Berl. Tagebl.« Nr. 73).
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