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386 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 7. Heft. (Juli 190t)
Verrichtungen mit der gesetzmässigen, von innen aus vorgeschriebenen
Notwendigkeit einer Selbstentwickelung
tibereinstimmen, desto berechtigter sind wir, von Freiheit
zu reden. Wir nennen auch Gegenstände der Natur frei
und sprechen von freien Lüften, freien Wogen, freien
Wäldern u. s. w. Da3 ist nicht falsch, da ja das geringste
Naturobjekt seine eigenen Wesensgesetze in sich trägt und
immer gleichzeitig thätig und leidend, sie im Wechselverkehr
mit allen anderen Objekten entfaltet. Frei aber heisst uns
die Natur auch in ihrer engen Berührung mit der Thierwelt
, der sie theils freundliche Hüterin ist, theils zur
grausamen Vernichterin wird, so lange, bis sie der
Menschengeist in Bande schlägt, um sie seinen
Zwecken dienstbar zu machen und vor ihren wilden Angriffen
Besitz und Leben ungefährdet zu wahren. Der Mensch
unterwirft als Herr sich die Natur, deren verborgene Kräfte
er ausspäht; doch in entfesselten Ausbrüchen fordert sie
zuweilen die geraubte Freiheit zurück und nie hören die
Elemente auf, das ihnen Aufgedrungene, Fremde, „das
Gebiid der Menschenhand zu hassen." Zugleich mit der von
ihm ausgeübten Herrschaft und der gesteigerten Kraft
seines Bewusstseins beginnt aber durch den Menschen
erst im eigentlichen, echten Sinne das Reich der Freiheit;
es beginnt mit der Möglichkeit eines kraftvollen Gebrauches
oder Missbrauches seiner Geistesgaben. Als das Wesen,
das der Natur Stoffe, Gewächs und Gethier in seinen Dieist
zwingt, als das Wesen, das im Eingen um solche Herrschaft
und Macht auch Seinesgleichen befehdet und seine
Throne aufrichtet auf Trümmerstätten über Geknechteten
und Leichen, folgt der Mensch einem unwiderstehlichen
Innentriebe, der unaufhaltsam ihn zur Entwickelung seiner
Anlagen spornt. Weil ein solches Bewusstsein seine Schritte
beleuchtet, ihn bei der Umschau über zahllose Möglichkeiten
eine jede prüfen und klug sein Thun bemessen lässt,
darum vermag er im eigentlichen Sinne zu sagen: ich bin
frei. Ich bin frei, bekennt er, weil etwas in mir ist,
das mich in Bewegung setzt zu bewusstem Handeln,
das all dies mein Handeln regelt und dem ich innerlich
mit allem Fühlen und Streben, wie äusserlich mit jeder
Mnterlassenen Spur meines Inneren, gerecht werden will und
kann. Aber sofort und unmittelbar mit diesem Freiheits-
bewusstsein regt sich in ihm schon das Sehnen und
Ringen nach einer anderen Freiheit; mitten in
der Vergewaltigung und Tyrannei, die er unumgänglich
verübt und die ihm den Stolz des Freiheitsbewusstseins
schenkt, wird in ihm die Schätzung dessen, was er voll-
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