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388 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1901.)
der praktischen Vernunft" hat Kant die Selbstgewinnung
durch das Sitte ngesetz gelehrt und uns selbst zu
dessen Gesetzgebern gemacht. Warum giebt es so
viele gebildete, ja gelehrte Deutsche, die diese die Geister
einst so mächtig bewegende Schrift gar nicht kennen? Unter
unseren Okkultisten, denen, wenn es ihnen um ihre Sache
Ernst ist, jedes Eindringen in die Hauptfragen des Seelenlebens
von höchstem Werthe sein soll, wie wenige mögen
es sein, die von dem Buche, in welchem Kant die oberste
Prinzipienfrage der Seele behandelt, Kenntniss nahmen?
Wenn bei der behaupteten Einheit des Denkens und
Organisirens, die du Frei so trefflieh nach allen möglichen
Beziehungen dargethan hat, die Selbstorganisation
von ihm gelehrt wird, um wie viel bedeutungsvoller
ist nicht auf dem Gebiete des Denkens und zwar vor allem
jenes Denkens, das mit unserem Handeln zu thun hat, es
werthet oder entwürdigt, die Grundlehre unserer eigenen
Gesetzgebung!
Wie für Kant das Sittengesetz schlechtweg ein
Faktum ist, so ist ihm dessen enge Verflechtung mit
unserem Gemüth und Gewissen nur durch die Autonomie
desselben erklärlich, und dies autonome Sittengesetz wiederum
berechtigt uns, das Postulat der als Hypothese schon von
der spekulativen Vernunft aufgestellten, aber keinem
theoretischen Beweise zugänglichen Freiheit, ob auch
subjektivisch, doch mit allen Ansprüchen objektiver
W a h r h e i t (s. darüber Vorrede zur „Kritik der praktischen
Vernunft") zu erheben. Kant weiss es mit der ruhigen
Selbstbescheidung des Weisen, dass in der Kegion trans-
scendentaler Ideen jeglicher Beweis versagt;
aber er ist sich auch immer klar gewesen über die U n -
entbehrlichkeit dieser Ideen sowohl für die Grenzbestimmungen
der philosophischen Erkenntnisslehre, wie für
die Forderungen der Ethik und der sogenannten „praktischen
Vernunft", der er bereits in der „Kritik der reinen Vernunft"
den Primat vor der spekulativen Vernunft zugesteht.
Vernunft aber heisst ihm die ethische Geistesanlage
in uns, weil sie nach ihm ja eine Gesetzgeberin
ist, weil er ebenso wie Sokrates die Tugend in ein Wissen
setzt, im Gewissen seinem .Namen gemäss eine tief in uns
verborgene, doch uns stets klar vernehmbare Stimme der
Weisheit erkennend. Vergessen wir auch nicht, dass mit
seiner Lehre von der Autonomie des Sittengesetzes und
unserer reinen S e 1 b s t gewinnung durch dasselbe Fant die
auch sonst von ihm vertretene Lehre eines transscenden-
talen Egoismus so klar wie möglich feststellt. Mit den
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