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400 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 7. Heft (Juli 1901.)
Vorwärtsstrebens in mir zu ersticken. Ich wollte einfach
gar nichts mehr. In der scheinbaren Uebernahme des
väterlichen Geschäftes (die formelle Qualifikation hatte ich
ja), bot sich mir eine Gelegenheit zu einem stillen, ruhigen
Leben, nach welchem ich mich in meiner jetzigen Gemüthsverfassung
überaus sehnte. So behchloss ich denn in Wall.
Meseritsch zu bleiben und Geschäft und Haus meines Vaters
zu übernehmen. Mitbestimmend zu diesem Entschluss war
auch der Umstand, dass ich bei einer mir sehr sympathischen
Familie im Orte eine herzliche Ansprache und einen Verkehr
gefunden hatte, den ich anderswo schmerzlich vermisst hätte
und der mir das damals noch fehlende eigene Familienheim
völlig ersetzte. Soweit wäre die Sache in Ordnung gewesen;
die moralische Schattenseite dabei, die mir damals, ich kann
es ohne Selbstbeschönigung sagen, gar nicht recht zum
Bewusstsein kam, war aber Folgendes: es fiel mir gar nicht
ein durch die äussere Uebernahme des väterlichen Geschäftes
wirklich das zu weiden, was ich nun äusserlich \orstellte,
sondern ich dachte mir die Zukunft nicht anders, als dass
ich die Leitung und Obsorge für das Geschäft stets von
mir angestellten Leuten überlassen und lediglich den Namen
dazu hergeben könne, während ich selbst ganz ruhig und
ungestört meinen wissenschaftlichen und künstlerischen
Interessen zu leben gedachte, also ein Dasein zu führen wie
etwa der Vater Goethe'%* Darin liegt nun meine moralische
Schuld, die mir allmählich und immer mehr das Leben
verbitterte und verbittert. — In der ersten Zeit merkte ich
von den inneren Wirkungen dieser meiner seltsamen Position
nicht viel. Mein Interesse an der oben erwähnten
Familie hatte sich in stärkere Gefühle umgewandelt und so
baute ich mir denn das väterliche Haus um, richtete es zu
einem entsprechenden Heim her — und führte dann die
Braut heim! (Juli 1894). Ich hatte jeden äusseren und
inneren Grund, durch diesen Erfolg hochbefriedigt zu sein und
war es auch — durch einige Zeit. Dann aber machte sich
die geheime nagende Unruhe bei mir immer stärker bemerkbar,
ohne dass eine äussere Veranlassung dazu dagewesen wäre.
Jn hypochondrischer Schwarzseherei nistete sich die Sorge
in meinem Herzen ein*):
r Unruhig wiegt sie sich und ^öret Lust und Ruh;
Sie deckt sich stets mit neuen Masken zu,
►Sie mag als Haus und Hof, ah Weih und Kind erscheinen,
Als Feuu\ Wasser, Dolch und Gift;
Du behst vor allem, was nicht trifft,
Und was du nie verlierst, das musst du stets Leweinen."
*) Sollte man die*>e Unruhe, Sorjre und Wehmuth nicht auf die
unbewusste Ahnung eines zu frühen Todes zurückführen* können ?
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