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424 Psychische Studien, XXVIII. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1901.)
zusammenhängt, zum Nachtheil anderer Triebe, allzu sehr
gepflegt wird.
Und nun gar die Fälle, welche in die Werther-Ka&egorie
gehören! Ein junger, gebildeter, gutgestellter und sonst von
keinerlei äusserem Ungemach betroffener Mensch erschiesst
sich, weil — seine Geliebte eines anderen Frau wird. Wenn
Goethe in vWerther1s Leiden" sagt: „die menschliche Natur
hat ihre Grenzen; sie kann Freude, Leid, Schmerz bis auf
einen gewissen Grad ertragen, und geht zu Grunde, sobald
der überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer
schwach oder stark ist" u. s. w. — so hat er iu letzterem
gewaltig Unrecht; denn gerade um diese Frage handelt es
sich am allermeisten. Wir haben es im „Werther" eben
mit einem Schwachen zu thun, und dass dieses Faid-
ergebniss in Goethe^ sonst hochpoetischem Werke nicht
genug hervortritt, war leider eine der Ursachen, warum der
„Werther" so viel Selbstmorde nach sich zog. Die tragische
Seite der Gefühle ist zwar meisterhaft, aber in einer dem
wirklichen Grad des Ungemachs (man kann nicht einmal
sagen „des Unglücks") nicht angemessenen Weise dargestellt;
hingegen was diese That Leichtsinniges, Unvernünftiges, ja,
in Hinsicht auf die Pflichten des Menschen, Unmoralisches
an sich hatte, — davon ist keine Rede. Dans es sich hier
um einen in keiner Weise zu rechtfertigenden Entschluss
handelt, bewies Goethe übrigens durch sich selbst, da die
Schilderung der peinlichen Zustände seine eigenen darstellt,
der Ausgang aber dem Fall des jungen Jerusalem entspricht.
Hierin liegt aber der Schwerpunkt. Ein Jerusalem konnte
sich schon unter solchen Umständen das Leben
nehmen, ein Petrarca und ein Goethe waren zu stark dazu.
Und so ist auch die Wirkung derartiger Werke verschieden,
je nach der Natur des Lesers. Man braucht kein Napoleon /.
zu sein, der den Werther sieben Mal gelesen haben soll,
trotzdem aber, seiner Natur nach, am allerwenigsten dazu
angethan war, sich aus Liebe das Leben zu nehmen; ein
jeder besonnene und harmonisch entwickelte Leser wird
ebenso handeln, für einenSchwachen hingegen sind solche
Dichterworte ein verführerisches Gift.
Dass zunächst Jerusalem selbst im Ganzen kein
starker Mensch gewesen sein ra uss, lässt sich mit Sicherheit
folgern. Nach gewissen Seiten hin stand er zwar über
dem Duichschnittsmaass: er war fähig, er besass ein warmes
Herz und physischen Muth, es lebte in ihm ein edler Stolz,
der ihn die ihm iu Folge elender gesellschaftlicher Vorurtheile
zugefügten Kränkungen bitter fühlen liess u. s. w. In einem
anderen und zwar in einein maassgebenden Sinne hingegen
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