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v. Seeland: Ueber den Selbstmord aus Liebe.
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war er unter dem gesunden Mittel gerathen. Wer Gelegenheit
hatte, Menschen von melancholischem Temperament zu
beobachten, dem muss es einleuchten, dass Jerusalem ein
solches besass. Er war still und in sich gekehrt, nahm an
den Vergnügungen der Wetzlar'sehen Jugend keinen Theil,
liebte Bilder, wo einsame Gegenden vorgestellt waren, und
beschäftigte sich mit der englischen Litteratur; diese aber
war damals voll von traurigen, schauerlichen Erzeugnissen,
welche, so wie auch die melancholischen Gesänge Ossian's,
bei der damaligen deutschen Jugend besonders beliebt waren,
wie Goethe selbst in „Wahrheit und Dichtung" bezeugt. Eine
organische Disposition zur Schwermuth kann schon an sich
das ganze Leben vergiften; bei dem im Inneren vorwaltenden
Seelenschmerz können peinliche, obwohl nicht sonderlich
bedeutende äussere Widerwärtigkeiten viel stärker gefühlt
werden und schliesslich zur Verzweiflung führen. Jedenfalls
ist so viel ausser Zweifel: Jerusalem Hess sich durch die
Neigung zu einem Menschen dermaassen verblenden und
bethören, dass nunmehr nichts von jenen natürlichen Gedanken
und Gefühlen, die einem normalen Menschen unter
solchen Umständen einen Zaum angelegt hätten, im Stande
war, ihn von seiner fixen Idee abzubringen: das Pietätsgefühl
für seinen ausgezeichneten Vater, dem er einen kummervollen
Lebensabend zu bereiten sich anschickte; die Rücksicht auf
Verwandte und Freunde; der Gedanke an eine tüchtige
Lebensaufgabe, wie sie ein junger, fähiger und wohlhabender
Mann erwarten konnte; die Erwägung, dass es ausser seiner
„Einzigen" noch viele andere liebenswürdige Damen im
Lande gäbe und dass schon so Mancher von der leidenschaftlichen
Liebe genas, — alles Solches kam gegen seinen
Liebeswahn nicht auf; ein solcher Zustand aber ist der
eines Kranken*) [Auch wir betrachten die leidenschaftliche
Geschlechtsliebe, welche beim richtig fühlenden
Menschen eine zugleich sinnliche und geistige, zur Ergänzung
durch ungehinderte Verbindung drängende Ergriffenheit des
ganzen Wesens ist, als eine Art Erkrankung des Leibes
wie derSeele, woraus sich eben die hochgradige Gefahr
im Falle der Nichtbefriedigung durch volle Vereinigung
*) Und wenn wirklich Kränkungen von Seiten dummstolzer
Adeliger bei seinem traarigen Entschluss mitgewirkt haben sollten,
so wäre seine Thvt auch in diesem Falle als eine höchst sonderbare
zu beurthoilen. Wie viel natürlicher wäre es gewesen, den Beleidigern
auf irgend eine empfindliche Weise seine Verachtung kundzugeben,
als sieh dadurch dermassen niederschlagen zu lassen. Es wäre auch
ititeressant zu wissen, wieso (loe*he, der doch auch bürgerlicher
Herkunft war, nicht in den Fall kam, sich in demselben Wetzlar über
Zurücksetzung zu beklagen.
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