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426 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1901.)
ergiebt. — Red.] Es ist sehr wahrscheinlich, dass Jerusalem^
Zustand dem des Werther glich, dieser aber führt uns in
seinen letzten Tagen geradezu das Bild eines Gestörten vor.
Wie kann nun wohl bei der Beurtheilung eines solchen
Falles von mehr als von einem „mitleidigen Achselzucken"
die Rede sein? Es handelt sich hier zwar um einen Unglücklichen
, aber um einen, der sich nicht durch wirkliche
äussere Missgeschicke, sondern in Folge seines krankhaften
Wahns unglücklich fühlte. Daher war auch seine That weder
nothwendig, noch vernünftig, noch würdig und gehörte
sicherlich nicht zu den allerdings seltenen Selbstentleibungen,
wo dem Verzweifelnden wirklich kein anderer moralisch
würdigerer Ausgang offen blieb. Wo der (ireschlechtsliebe^
trieb zu einer so ausschliesslichen Macht emporwuchert,
dass im Vergleich mit ihm „jeder andere Lebenszweck so
nichtig erscheint, dass das Leben hingegeben werden muss",
— da haben wir eben keinen gesunden Menschen mehr,
aber auch keinen eigentlich grossen Geist vor uns. Die
wirklich Grossen haben mehr zu thun, als sich durch
ein leicht gutzumachendes Hinderniss in ihren Liebesbewerbungen
bethören zu lassen und sich darob vom Leben
zu verabschieden. — Wie viel Beispiele sehen wir ferner, die
dafür sprechen, dass gerade eine leidenschaftliche, an
Wahnsinn grenzende Geschlechtsliebe, weit entfernt davon
ein Symptom zu sein, dass sich „ein grosser Geist verkörpern
wolle", — hauptsächlich auf der Gewalt blos sinnlicher
Reize beruht, namentlich wenn die Wirkung der letzteren durch
ein kokettirendes und zugleich zurückhaltendes*) Wesen auf
eine unangemessene Höhe getrieben wird. Mithin kann ich
Herrn Prof. Seiling in seiner Beurtheilung des Liebesselbstmordes
nicht beistimmen, obwohl mir manches Andere in
seinen Ausführungen einwandfrei und sehr beaehtenswerth
erscheint.
Die moderne Transscendentallehre.
Von Franz Maibel in München.
Nachdem in weitesten Volkskreisen „Kraft und Stoff"
den aus dem Henotheismus entstandenen Monotheismus
verdrängt hatten und die modern gebildete Menschheit in
der Ewigkeit und steten Fortentwickelung der Materie die
*) Dieses den Reiz der Befriedigung des Gesehleehtsgenusses
bedeutend erhöhende Sichzieren und scheinbare Rträubeu insbesondere
des Weibchens gegenüber dem brünstigen Männchen (die von den
Franzosen sogenannte „com&lio feminine*) schon im Thierreich zu
beobachten, bietet jeder Thiergarten reichliche Gelegenheit. — Ked.
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