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W— Erdensohn: Kirchliches Christenthum und Spiritualismus. 485
Kirchliches Christenthum und Spiritualismus.
Ein offenes Sehreiben an Fräulein A. B.
Von W— Erdeiioshii.*)
Sehr geehrtes Fräulein!
Gern Ihren Wunsch erfüllend, so weit ich dieses meiner
persönlichen Anschauung nach vermag, will ich Ihnen meine
Meinung in Bezug auf die Sie bestürmenden Zweifel sagen.
Ueberaus glücklich würde ich mich schätzen, könnte ich
Sie beruhigen und die peinlichen Fragen Ihres empfindsamen
Gemüthes beschwichtigen.
Vertiefen Sie sich nicht zu sehr in theologische Spitzfindigkeiten
und lassen Sie sich nicht von religiösen Skrupeln
überwältigen, sondern suchen Sie die einfache warme Gottes-
und Weltanschauung zu gewinnen, die Ihnen die Ruhe und
Freudigkeit des Gemüths, welche auf Hoffnung, mehr aber
noch auf innerer Erkenntniss begründet sein will, verleihen
wird. Sie werden sich dann auch nicht mehr vor der Stunde
des Abscheidens von der Erde fürchten, sondern ihr mit
ruhiger Seele entgegensehen. Zuerst aber machen Sie sich
frei von religiöser Furchtsamkeit, lassen Sie sich Ihre
Geistes- und Gewissensfreiheit nicht rauben durch enge
Dogmen und Satzungen der Priesterschaft, deren ganzes
Streben darauf hinausgeht, die Menschen emzuängstigen und
einzuschüchtern durch Androhung von Verdammniss, Hölle
und Teufel, um ihre Gewissen im Sinne der kirchlichen
Satzungen zu beherrschen. Wie sollten auch die „Diener
der Kirche", befangen in Vorurtheilen und Dogmenthum,
Ihnen Aufschluss geben können in Dingen, über die dieselben
selbst keine bessere Erkenntniss besitzen? Welches Verdienst
ferner könnte darin liegen, blind an Etwas zu glauben, was
man weder verstehen, noch einsehen kann, was gänzlich aller
Vernunft und Gerechtigkeit widerspricht?
Sie, geehrtes Fräulein, besitzen, wie es tieferen Naturen
eigen ist, eine wissbegierige, nach Erkenntniss dürstende
Seele; Ihr Geist strebt nach dem Idealen — Sie sind eine
„Gottsucherin'1, und das religiöse Gefühl ist Ihnen Bedürfniss;
Sie suchen die Ruhe und Freudigkeit des Gemüths zu
gewinnen: lauter Bestrebungen, die zur Erriugung der Er-
*) Mit gütiger Erlaubniss des Herrn Verfassers und der
Empfängerin bringen wir obiges Antwortschreiben, zu welchem wir
unseren Briefkasten im Mürz-Heft er. zu vergleichen bitten, zum
Abdruck und verweisen zugleich warm empfehlend auf das sehr
gehaltvolle Werk desselben Autors: „Dasein und Ewigkeit"
(Leipzig, Oswald Mutze, 8 M.) — Bed.
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