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W— Erdeiiöohn: Kirchliches Christentum» und Spiritualismus. 4$7
Sie der französischen Sprache mächtig sind, lesen Sie noch
„L'Evangile Selon le Spiritismea von demselben Allan Kardec
(im Deutschen, so viel ich weiss, nicht vorhanden). Ein
schönes, sinniges Buch noch ist Camitte Flammarion's „Die
Mehrheit bewohnter Welten" (deutsch von Dr. AdolphDrechsler).
Es wird sich dann schon von selbst finden, was Sie bei der
Wahl Ihres Lesestoffes ansprechen und anziehen wird; aber
unterlassen Sie — wenn Sie sich nicht stark genug dazu
fühlen — das Lesen der materialistischen Philosophen und
Pessimisten, wie Büchner, Moleschott, K. Vogt u. a., auch
neuerdings Nietzsche ] haben Sie dagegen eine feste innere
Ueberzeugung von der Nichtigkeit der materialistischen
Konsequenzen gewonnen, so werden die genannten Schriftsteller
Sie nur in Ihrer erlangten Ueberzeugung bestärken.
Lesen Sie, was Ihre Seele erhebt zu lichtfreudiger Welt-
und Gottesanschauung, und lassen Sie bei Seite, was nur
zu düsterem Grübeln führt und jede Lebensfreudigkeit tödten
muss. — Die grosse Schuld, dieses Letztere zu verursachen,
liegt auch auf den Gewissen der Priester. Zwar thun
dieselben dies, da sie es selbst nicht besser wissen, und oft
auch aus eigener Befangenheit und Furcht vor den ewigen
Strafen, aber eben darum darf man sich ihrem wenig tröstlichen
Einfluss nicht unterwerfen; sie haben eben „den
Schlüssel der Erkenntniss an sich gerissen und verschliessen
das Himmelreich vor den Menschen; sie kommen nicht
hinein und lassen auch Andere, die hinein wollen, nicht
hinein" {Matth. 23, 13. Luc. 11, 52). — Glauben Sie nicht,
dass ich prinzipiell ein Gefühl des Vorurtheils und der
Gehässigkeit gegen Kirche und Priester habe,*) im Gegen-
theil: es stimmt mich immer erhebend und andächtig, ja
erweckt in mir ein beseligendes Gefühl, wenn ich die
Menschen, die doch sonst so viel unter einander Hader und
Streit haben und sich gegenseitig so viel Böses zufügen, in
friedlicher Gemeinschaft bei Gebet und Andacht versammelt
sehe; mein ganzes Wesen aber sträubt sich gegen die hartnäckigen
, veralteten, grausamen Religionsvorsteilungen und
Dogmen der Kirche (sofern diesen eine wichtige Bedeutung
beigelegt wird, die den lichten inneren Sinn der Lehre Christi
*) Wer nich in seiner Konfession and Kirche wohl gefällt, möge
auch darin verbleiben, und wen die dogmatischen Lehren befriedigen,
den will ich durchaus nicht abbringen davon, kann es auch nicht,
da er kein andere« Verlangen kennt. Aber, wer unbefriedigt ist und
einen regeren, wissensdurstigeren und nach Gerechtigkeit verlangenden
Geist besitzt, ist auch vollkommen in seinem Hechte, wenn er bestrebt
ist, sein philosophisches Bedürfniss, welches nach wie und warum,
nach richtig oder falsch, nach gerecht oder ungerecht fragt,
zu befriedigen.
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