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494 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 8. Heft (August 1901.)
lieber Weise die Mutteridee ab, — macht sie überflüssig;
das Minderwertige muss dem Vollkommneren weichen, da
dieses es mehr als ersetzt. Die Mutteridee wird also preisgegeben
, — das unnütz gewordene Gerüstholz wird entfernt,
sobald der Bau fundamentirt ist
Ideen solcher Art sind z. B. das wechselnde Verhältniss
des Mannes zum Weibe (Frauenraub — dann freie Wahl
des Mannes auf Grund beiderseitigen Einverständnisses —
vollständige Gleichberechtigung — Emanzipation); ferner
das Religionsgefühl (Fetischdienst — Poly- bez. Heno- —
Monotheismus)*) und ebenso auch der Patriotismus (Familie,
Stamm, Staat).
Es ist natürlich, da Kampf ein Prinzip des Alls ist,
dass die Ablösung einer Idee durch das aus ihr entwickelte
Ideal nicht ohne heftiges Widerstreben ihrer Vertreter
geschieht, Vertreter einer Idee sind aber in erster Linie
jene, welche aus ihr Nutzen ziehen. In neuerer Zeit sind
es vor allem die zuletzt erwähnten Vorstellungen, um welche
der Kampf mit zäher Energie geführt wird — Eeligions-
gefühl und Patriotismus. Eine Erörterung dieses letzteren
Ideenkampfes verbietet der Zweck dieser Zeilen, welche dem
ersteren gewidmet sind — dem Ideen Wechsel des religiösen
Empfindens.
Wenn es auch nicht so scheinen mag, so ist doch die
Fehde hier bereits im Sinken begriffen. Das Ideal hat über
die Mutteridee gesiegt: der religiöse Monotheismus ist
allmählich der wissenschaftlichen Naturerkenntniss gewichen.
Die sogenannten herrschenden Beligionssysteme sind, um
einen Gemeinplatz zu gebrauchen, ein überwundener Standpunkt
. Philosophische Grübeleien aller möglichen Richtungen
bahnten dem Ideal über diese transmundanen Hypothesen
den Weg: als neue Idee trat der philosophische Materialismus
auf, die Anbetung des Stoffes und der Kraft. Die zweite
Hälfte des verflossenen Säkulums, des rasenden Jahrhunderts,
wie man es nach der schwindelerregenden, allseitigen Ent*-
wickelung undUeberentwickelung, die es brachte, nennen sollte,
zeigte sie in höchster Blüthe, gab ihr aber auch schon den
Nachfolger — den Okkultismus. Okkult heisst unbekannt. Alle
uns unerklärlichen Erscheinungen, alle in Aktion tretenden
uns nicht näher bekannten Kräfte fallen demnach unter den
Begriff „Okkultismus." Gewöhnlich wird dieser Ausdruck
*) Henotheismusals Verehrung eines Gottes als des höchsten
unter vielen oder mehreren Göttern war bekanntlich auch ursprünglich
der jüdische Jawe-Kult, aus dem sich erst ziemlich spät der
monotheistische Glaube an einen einzigen und absoluten Gott oder
Weltgeist entwickelte. — Bed.
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