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Kaibel: Okkulter Materialismus.
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Das All ist an und für sich ewig und unendlich. Der
Begriff t,Grott" bedingt einen reinen, unkörperlichen „absoluten
" Geist; einen solchen aber anzunehmen, ist, wie oben
bereits ausgeführt, absurd. Ein ätherisches Wesen hingegen,
mit dem denkbar feinsten Astralleib wäre aber auch kein
Gott, trotz Tertullian (s. adv. Prax.), da eine Aeusserung
seiner Kräfte und Fähigkeiten von diesem Astralkörper
abhängig wäre, was sich mit der (von der Theologie postulirten)
Vollkommenheit, die zum Begriffe „Gott" gehört, nicht deckt.
Es ist also nur scheinbar, dass „Kraft und Stoff", die Ideale
der Materialisten, ihres Herrscherthums verlustig gehen; sie
bleiben als Grundprinzip in vollster Anerkennung, ihre
Entwickelungsfähigkeit wird nur nach den anerkannten materialistischen
Gesetzen weiter geführt, und dagegen könnte
selbst der eingefleischteste Anhänger der Kraft- und Stofflehre
nichts haben.
Trotz der Verneinung des Gottesbegriffes aber nenne
ich den Spiritismus, bez. diesen okkulten Materialismus eine
Religion. Wohl sehliesst Religion an und für sich Wissenschaft
aus, doch nur im gewöhnlichen Sinne. Das Wort
Religion wird eben immer falsch verstanden. Nach theologischer
Erklärung stammt es von religare («= Gebunden-
sein, Bündniss mit Gott, wie es der Kirchenvater Lactantius
definirt). Cicero hingegen leitet es von religere ab, geloben.*)
*) Obige Erklärung scheint mir schief, resp. philologisch nicht
haltbar zu sein. Ein lateinisches Zeitwort „religere = geloben * existirt
meines Wissens überhaupt nicht. Cicero leitet das Wort „religio*,
das im klassischen Latein bekanntlich nur im Sinn des subjektiven
Glaubens (resp. Bedenkens) gebraucht wird, an der bekannten Stelle
(nat. deor. 2, 28, 72: ijnui omnia quae ad cultum deorum pertinerent;
diligenter retractarent et tan quam relegerent, sunt dicti religiosi
ex relegendo, d. h. diejenigen, die Alles was zur Götterverehrung
gehört, gewissenhaft immer von neuem behandelten und gleichsam
wiederlasen, bezw. durchgingen, wurden eben vom Wiederzusammenlesen
religiös — eigentlich bedächtig, skrupulös fromm
— genannt) von dem Zeitwort relego, legi, lectum, legere ab, dessen
part. j>raes. nur als Adjektiv sich in der Form „religens = gottes-
türchtig* findet (so poefca ap.Gell.4,9, wo eben auch die ciceronianische
Ableitung von religio — bezw. relligio [mit Assimilation des d der
ursprünglichen Ablativform red an 1] erwähnt wird). Die von der
christlichen Theologie nach Lactavtius acceptirte Erklärung, wornach
„Religion" ein „Binden des Geistes an die Gottheit" bezeichnen
würde, ist nach der sprachlichen Etymologie unmöglich, da das von
religare als Derivatum gebildete Substantiv bekanntlich religatio
lautet (eigentlich das Zurückbinden: so Cic. sen. 15, 53: „religatio et
propagatio vitium" von Weinreben). Uebrigens findet sich dieser
Gedanken des nGebundenseinstt, welcher allerdings der Definition
Erkdr. Schleiermacher's (Religion = Abhängigkeitsgefühl) am nächsten
kommt, schon bei dem Zeitgenossen Cicertfü, dem geistvollen Dichter
Titus Lucreims Carus (99—55 vor Chr.), einem Vorläufer Darwin'*, der
Psychische Studien. August 1901. 32
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