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498 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 8. lieft. (August 1901.)
Nun ist der hochgebildete Körner entschieden massgebender,
als der Kirchenvater, den Augustmus selbst einen rohen,
ungelehrten Kerl nennt. Religion wäre also ein Gelöbniss.
Geloben kann man verschiedenes. Die Bntwickelung des
Religionsbegriffes weist darauf hin, dass mit diesem Gelöbniss
ein Versprechen der Unterwerfung bezeichnet ist, —
ein Beugen unter etwas Bestehendes — noch allgemeiner,
eine Anerkennung von Thatsachen.*) So verstanden
iässt sich Religion sehr gut mit \vissenschaft vereinigen,
so ist es hier auch gemeint. —
Diese Definition des Spiritismus bringt es ferner auch
mit sich, dass das mit Wissenschaft unvereinbare sklavische
Beugen unter angeblich aus dem Jenseits geoifenbaxte
Dogmen, wie sie als Glaubenslehren auch von theosophischer
Seite da und dort angepriesen werden, eine Ausartung iFt,
welche ihren Grund in den aus Konfessionen herübergenommenen
übernatürlichen Begriffen hat. Dieser konfessionelle
Massstab wird dann an die okkulten Erscheinungen
angelegt — und der alte Himmelvater mit den Alleluja
singenden Seligen ist — wenn auch in anderer Form —
wieder da. Wäre dem so, wäre also der Spiritualismus, bez.
der Spiritismus ein aufs neue reformirtes Christeuthum, dann
hätten die Gegner vollständig recht, die Metaphysik als
Rückschritt zu bezeichnen; doch ein einfaches Koustatiren
uns neuer Thatsachen ist Fortschritt. Biebern (auf
wissenschaftlicher Forschung durch das Experiment begründeten
) Spiritismus verdankt der Mensch das Avancement
vom höchsten Erdenthier — zum Bürger des Universums.
in seinem philosophischen Lehrgedicht „de remni natura"1 im Sinne
der von ihm mit Begeisterung verkündeten Lehre Epikvr's für die
wichtigste Kulturaufgabe erklärt: „religionura nodis animosexsolvere",
die Gemüther von den religiösen Banden |~ Skrupeln) zu befreien.
Der ausdrückli hen Ableitung von religaie begegnen wi*% dann zuerst
in dem Commentar des Sergius zu Verf/il, Aen. K, :>49 und weiterhin
bei dem Kirchenvater Augustinus retr. 1, \\\ und ver. rel. f»5. Hie von
(Uten» gegebene Deutung empfiehlt sieh, abgesehen von ihrer sprach
geschichtlichen Richtigkeit, aber auch sachlich weit mehr, weil sie
den Begriff der religiösen Sammlung der Gedanken zur Andacht
ergiobt. — Maier.
*) Dieser geistreichen, aber gekünstelten und (wie schon ausgeführt
) auch sprachlich unhaltbaren Deutung gegenüber, die uns
mit dem eigentliche« Wesen der Religion fast keine Berührung m
haben scheint, mochten \sir der zuerst von dem hervorr igen den
SpraehfoiMiker und -Philosophen Dr. Heitmann Stnnthal (»eit 18<)">
Prof. in Herlin, Verf. vom „Ursprung der Sprache" und 1h rausgeber
der „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft"] aufgestellten
Deiinition der Religion als „Gefühl des Unendlichen
", das eben zum „Sammeln der Gedanken an das Ewige und
Göttliche*' führt, entschieden den Vorzug geben. — Maier.
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