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514 Psychische Studien. XXVIII. Jahr*?. 9. Heft. (September 1901.)
künden nach dem Herablassen zeigt sich unten an den
Vorhängen, die geschlossen bleiben, etwas Weisses, anfangs
so gross wie ein Ei; es wächst aber schnell empor und
sieht aus wie der Unterteil eines Kleides. Plötzlich gehen
die Vorhänge auseinander, und eine ganz weiss gekleidete
Frauengestalt tritt aus dem Kabinet und geht schnell auf
Frau D. und Frau B. zu, die gleichzeitig ausrufen: Blanche,
Blanehel Die Erscheinung wirft sich der Frau D. in die
Arme und sagt auf Französisch: Liebe Tante, ich bin so
glücklich, dich zu sehen"! und zu Frau B.: „Und dich auch,
Viciorial" Die Damen, sehr bewegt, antworten der Erscheinung
mit liebevollen Worten, umarmen sie and werden von
ihr zärtlich geküsst, ebenso auch Herr B. (als Vetter durch
Heirath). Mit Blanche?$ Einwilligung kommt Herr T. S.
und ergreift ihre Hand; er scheint etwas betroffen und erklärt
, er habe ganz die Empfindung, als hielte er die Hand
einer lebenden Person von normaler Temperatur. Die Gestalt
verweilt ungefähr zwei Minuten, meist mit dem Gesichte
nach uns gekehrt. Ich betrachte sie in der Nähe,
ohne sie zu berühren. Sie ist etwa 10 cm höher als das
Medium und ziemlich schlank, während das Medium, eine
Frau von ungefähr 50 Jahren, etwas Embonpoint besitzt.
Die Stimme des Phantoms ist schwach und etwas schrill,
der des Mediums nicht zu vergleichen, das überdies keine
zwei Worte Französisch kann. Sie trägt einen Communi-
cantinnenschleier auf dem Kopfe, das Gesicht aber ist frei,
die Gestalt voll und frisch, im Alter von 20 bis 25 Jahren,
ohne alle Aehnlichkeit mit dem Medium. Sie legt die
Hand auf das Herz und scheint sehr bewegt. Dann geht
sie nach der Oeffnung des Kabinets, thut die Vorhänge
etwas auseinander und verschwindet. In demselben Augenblicke
greife ich nach dem seidenen Bande, das aus dem
Kabinet heraushängt, und überzeuge mich, dass nichts geändert
ist.
Kaum ist diese Gestalt verschwunden, als die Vorhänge
wieder von einander gehen und ein kleines Mädchen,
etwa 1 m hoch, eher weniger, in hellen, doch nicht weissen
Kleidern erscheint und zu uns spricht. Wir erkennen die
Stimme von Maudy; ihre Worte sind nicht notirt, Sie
bleibt an der Stelle nur wenige Sekunden, kommt sodann
heraus und eilt auf Frau D. zu, als ob sie sio umarmen
wollte, kehrt aber dann in das Kabinet zurück. Auf meine
Einladung, mir die Hand zu drücken, antwortet sie nur
scherzend auf Englisch: „Ich habe nur junge Herren gern."
— „Das ist nicht schmeichelhaft", erwidere ich schnell, und
wir brechen in ein lustiges Lachen aus. Wir bemerken
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