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546 Psychische Studien. XXVIII. Jahrg. 9. Heft. (September 1901.)
gehen beide derart in einander auf, dass Thier und
Mensch nicht nur die Charaktereigenschaften theilen, sondern
auch gegenseitig ihre Gedanken errathen. Mein Baschkirenrappe
, mit dem ich Tagelang die sibirischen Einöden
durchstreifte, wusste sehr genau, womit er mein Missfallen
erregte, und war sofort bemüht, ein begangenes Versehen
wieder gut zu machen; umgekehrt war mir sein ganzes
Wesen derart bekannt, dass ich mich mit absoluter Sicherheit
auf ihn verlassen konnte, wenn mich in schwierigen
Situationen meine Kunst im Stiche liess. Auch andere
Thiere — die Vögel nicht ausgeschlossen — geben dieselbe
Intelligenz zu erkennen, und sind für psychische Einflüsse
äusserst zugänglich, wie wir das bei dem Papagei wahrnehmen
können, der nicht nur die Thorheiten und Vorzüge
der ihn umgebenden Personen aufgreift, sondern auch
sehr bald die seelischen Reflexionen derselben reproducirt,
namentlich die seiner ständigen Gesellschafter, die sich viel
mit ihm beschäftigen und in immerwährende enge Berührung
zu ihm treten.
Aber kein anderes Thier giebtin so auffallender Weise
die stattgefundene und so eminente psychische Beeinflussung
zu erkennen, wie unser vierfüssiger Wandelstern, der Hund.
Es treten Situationen ein, in welchen nicht nur von hypnotischen
Einwirkungeu durch den Blick, wie bei dem Löwen
und der Schlange, gesprochen werden darf; es treten bei
dem Hunde auch Symptome auf, die auf Ahnungserscheinungen
desselben hinweisen, — wie z. B. in schweren
Krankheits- oder bevorstehenden Todesfällen, die in der
Familie seiner Herrschaft hereinzubrechen drohen; und bei
einem Thiere, dessen Sensibilität erwiesenermassen die des
Menschen um das Hundertfache überragt, kann man dies
kaum befremdlich finden, wenn man sich nicht der Er-
kenntniss von Wechselbeziehungen verschliessen will, die
sich in dem gesammten Naturleben unter verwandten Kräften
zu offenbaren pflegen. Wie weit diese Uebertragungen
reichen, davon haben wohl nur Wenige eine dämmerhafte
Vorstellung; aber jedenfalls finden dieselben in viel stärkerem
Maasse statt, als wir uns selbst eingestehen mögen. Zwar
kommt es öfters vor, dass wir zu bewundernden Betrachtungen
über die erstaunlichen Beispiele von Intelligenz, Nachahmungstrieb
uud Accomodirungsleichtigkeit solcher Thiere
herausgefordert werden; aber — das ist einmal so ihre
Art, und damit finden wir uns ab, ohne uns darüber den
Kopf zu zerbrechen, wie wir diese merkwürdigen Effluxionen
der Thierseele erklären sollen. Alle schärfer beobachtenden
Thierfreunde, Zoologen und Forstleute wissen interessante
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